»Die Statistik ist falsch«

heidrun Winkler ist Lehrerin und nimmt am Modellversuch Jahrgangsübergreifende Lerngruppen (Jül) in Berlin teil

Freuen Sie sich schon auf die großen Ferien?

Ja.

Was sind Ihrer Meinung nach die größten strukturellen Mängel an den deutschen Schulen?

Das Schlimmste ist diese schreckliche Selektion.

Aber gerade Bundesländer wie Bayern oder Baden-Württemberg, die eine sehr starke Selektion betreiben, haben bei der zweiten Pisa-Studie gut abgeschnitten.

Ja, aber diese Statistik ist verfälscht, weil in Bayern der Prozentsatz an Abiturienten nur halb so hoch ist wie in anderen Ländern. In Bayern werden nur wenige Schüler zum Abitur zugelassen, so haben auch nur die besten an dieser Studie teilgenommen.

Das heißt, das, was nun als Lösung propagiert wird, ist eigentlich das Problem?

Ja. In Bayern ist das Ergebnis besser, weil das Land weniger Ausländerkinder hat, die dieses Pisa-Ergebnis ja hauptsächlich geprägt haben. Bayern hat eine ganz andere soziale Struktur als die Bundesländer im Norden.

Die baden-württembergische Kultusministerin Annette Schavan (CDU), die im Wahlkampfteam von Edmund Stoiber ist, propagiert eine Mischung aus Eliteförderung und Integration der Migrantenkinder.

Schavan ist ziemlich konservativ, sie will das Selektionsprinzip beibehalten. Das ist per se schon eine Diskriminierung der Migrantenkinder. Selbst wenn Schavan die Integration fördern will, wegen der starken Selektion ist der Zug für diese Kinder abgefahren.

Aber Schavan hat doch auch erkannt, dass die Lehrmethoden verändert werden müssen.

Ja, aber wohl nur in den Eliteschulen.

Ist das Programm der SPD besser, die bis ins Jahr 2007 vier Milliarden Euro zur Verfügung stellen will, um 10 000 Ganztagsschulen zu errichten?

Ja, auf jeden Fall.

Was ist der Vorteil an der Ganztagsschule?

Die Migrantenkinder kommen raus aus ihrem Ghetto und haben nachmittags noch eine Betreuung. Bei uns in Berlin etwa ist es so, dass die Kinder nachmittags zum Teil gar nicht betreut werden und dann im Einkaufszentrum herumhängen. Mit der Ganztagsschule könnte der Verwahrlosung entgegengewirkt werden und die sprachliche Förderung wäre besser.

Ist nicht ein anderes Problem der Frontalunterricht, der doch das Schulmodell des Fordismus war?

Der Frontalunterricht ist ein Auslaufmodell, er war eigentlich schon vor 20, 30 Jahren veraltet.

Was hat sich in dieser Zeit geändert? Die Schüler?

Die Gesellschaft hat sich geändert. Du musst heute eine andere Qualifikation mitbringen, als einfach nur stillsitzen und zuhören zu können. Schon zu unseren Zeiten sind ja durch den Frontalunterricht nur zehn bis 20 Prozent des Lerninhalts hängen geblieben. Das, was ich heute weiß, habe ich nicht in der Schule gelernt.

Früher konnte man die Defizite, die durch den Frontalunterricht entstanden, zuhause wieder ausgleichen. In der Schule hat man sich gelangweilt, und zuhause hat man gearbeitet. Doch die Kinder bereiten heute zuhause nichts mehr vor.

Wie könnte die Schule darauf reagieren?

Die Schüler müssten lernen, selbstständig zu lernen. Selbstständigkeit ist mittlerweile eine geforderte Eigenschaft, auch Teamfähigkeit und Flexibilität. Das wird mit dem Frontalunterricht überhaupt nicht erreicht, im Gegenteil. Da wird man zum Einzelkämpfer ausgebildet, man wird teamunfähig und unselbstständig.

Da ja der Computer mittlerweile einen großen Stellenwert hat, müssten die Schüler auch viel eher Schreibmaschinenkurse usw. machen, auch Methodentraining, zum Beispiel das Klippert-Training.

Was ist das?

Das ist eine Lernmethode, sozusagen das Gegenmodell zum Frontalunterricht. Es ist vor allem geeignet für die Oberschulen. Der Schwerpunkt liegt bei der Partner- und Gruppenarbeit. Und es ist sehr auf den Text fixiert, auf Textverständnis. Du machst dir Stichwortzettel, vergleichst das dann in der Partnerarbeit, versuchst es zeichnerisch darzustellen und in größeren Runden noch einmal verbal wiederzugeben, trägst zu zweit Referate vor usw. Das Konzept hat unglaublich großen Erfolg. Selbst in Hauptschulklassen, in denen die Schüler überhaupt keine Lust mehr auf irgendein Thema haben.

Ist die Schule heute weniger ein Lernort und mehr eine Station, die soziale Probleme auffangen muss?

Ja, 50 Prozent unserer Energie und 30 Prozent unserer Unterrichtszeit werden von Sozialfällen in Anspruch genommen. Durch Gruppengespräche, durch Einzelgespräche, Elterngespräche, das ist ein Problem.

Warum kommt von den Lehrern so wenig Protest angesichts der schlechten Situation?

Das liegt daran, dass die meisten Lehrer sehr alt sind, sehr konservativ und nicht mehr gewillt, nach 20 oder 30 Dienstjahren ein anderes Modell auszuprobieren. 90 Prozent machen Frontalunterricht, würde ich sagen. Und nur ganz wenige sind bereit, auf Computer umzusteigen. Selbst Zeugnisse auf dem Computer zu schreiben, fällt manchen noch schwer. Das ist kein Vorurteil, das ist so.

Und welche Rolle spielen die Eltern?

Die Eltern wälzen ihren Erziehungsauftrag auf die Schule ab. Sie werden mit ihren Kindern nicht fertig und interessieren sich viel zu wenig für die Schule.

Bei den Migrantenfamilien besteht noch einmal ein spezielles Problem, weil die Eltern die Schule oft nicht ernst genug nehmen. Manche Migrantenkinder kommen nach den Ferien zu spät in die Schule, die Eltern lassen sie nicht mit zu Klassenfahrten, und wenn man sie darauf anspricht, ist es ihnen nicht wichtig genug.

Ist das ein Ausdruck der Ausgrenzung?

Das kann natürlich sein. Es sind auch nicht alle so. Viele sind frustriert, sie sagen, sie sind schulisch ausgegrenzt, finden keinen Job, allein der türkische Name etwa trage schon dazu bei.

Es gibt an Berliner Schulen die Möglichkeit, auf Wunsch der Eltern in der Grundschulzeit keine Noten zu erteilen. Wie finden Sie das?

Gut. Denn Noten können nie das ganze Spektrum der Qualifikation eines Kindes darstellen. Nehmen wir als Beispiel einen Schüler, der im Diktat zuerst 36 Fehler hat und eine sechs bekommt. Mit 26 Fehlern im nächsten Diktat würde er immer noch eine sechs bekommen, beim dritten Diktat mit nur 16 Fehlern wäre es immer noch eine sechs. Die Noten würden nicht wiedergeben, dass er sich enorm verbessert hat. Die Eltern meinen immer, die Noten wären gut für die Motivation der Guten, aber das stimmt nicht. Wenn du im Test null Fehler machst, dann weißt du, dass du gut bist.