Ausschreitungen vor den Oraniermärschen

Krieg im Kiez

Schon vor den traditionellen Märschen des protestantischen Oranierordens kommt es in Nordirland zu heftigen Auseinandersetzungen.

Zu Beginn der traditionellen Marschsaison des loyalistischen Oranierordens befindet sich Nordirland wieder einmal im Ausnahmezustand. 3 000 Paraden finden jedes Jahr in der Krisenprovinz statt, der Großteil davon im Juli. Vor allem in den Arbeiterbezirken der nordirischen Hauptstadt Belfast kommt es bereits seit Anfang Juni immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen protestantischen und katholischen Einwohnern.

Ende Juni lieferten sich Jugendliche aus beiden Lagern im Norden von Belfast heftige Straßenschlachten, nachdem das Wohnhaus eines Katholiken mit Feuerwerkskörpern beschossen worden war. Einige Tage zuvor, am 21. Juni, hatten in Belfast etwa 1 000 Loyalisten an einem der ersten Märsche des protestantischen Oranierordens, der sogenannten Tour of the North, teilgenommen. Bewohner der Duncairn Gardens, eines katholischen Viertels in Nordbelfast, bewarfen die Marschierer über eine Mauer hinweg mit Steinen. 27 von diesen Mauern, so genannte Friedenslinien, hat die britische Armee an Brennpunkten in Nordirland errichtet, um direkte Auseinandersetzungen zu unterbinden.

Die Oranier beschwerten sich nach dem Marsch über den angeblich zu schwachen Polizeischutz. Gerry Kelly von der lokalen Sinn Féin beschuldigte hingegen Loyalisten, während der Parade katholische Wohnhäuser angegriffen zu haben. Die zuständige Regierungskommission hatte den Oraniern zuvor bereits untersagt, durch hauptsächlich von Katholiken bewohnte Straßen zu ziehen.

Auch während der tagelangen Ausschreitungen im Belfaster Bezirk Short Strand im Juni beschuldigten sich Loyalisten und Republikaner gegenseitig, an den Auseinandersetzungen schuld zu sein. Joe O'Donnell von der republikanischen Sinn Féin machte loyalistische Paramilitärs, die aus anderen Teilen Belfasts angereist seien, für den Beginn der Krawalle verantwortlich. Der nordirische First Minister von der Ulster Unionist Party (UUP), David Trimble, erklärte hingegen, die IRA habe die Krawalle organisiert.

Allein der stellvertretende First Minister, Mark Durkan, Führer der moderaten nationalistischen Social Democratic Labour Party (SDLP), kritisierte die gegenseitigen Schuldzuweisungen der politischen Vertreter und mahnte, man benötige nun »kühle Köpfe«, um der Gewalt auf der Straße eine »vereinte politische Antwort« entgegenzusetzen. Die Gewalt drohe, Nordirland noch tiefer in die Krise zu stürzen. »Wir sehen Angriffe auf Wohnhäuser, Angriffe auf Schulen, Angriffe auf Schüler, und es kam sogar vor, dass Trauernde ihre Toten nicht in Ruhe beklagen konnten.«

In Short Strand gingen fast in jeder Nacht protestantische und katholische Bewohner aufeinander los. Es flogen Steine und Nagelbomben, Autos wurden in Brand gesteckt und Häuser beschädigt. Auf die Polizei wurde scharf geschossen. Diese antwortete mit Plastikgeschossen. Den Ausschreitungen gingen meistens Angriffe auf private Wohnhäuser von Katholiken und Schusswechsel zwischen loyalistischen und republikanischen Gangs voraus. 150 Gebäude wurden seit dem Beginn des Monats durch Brandbomben und Schüsse beschädigt. Viele Einwohner haben das Gebiet verlassen, Kinder und ältere Menschen mussten regelrecht evakuiert werden.

Das kleine Viertel Short Strand mit seinen 3 000 Einwohnern ist eine katholische Enklave im protestantischen Osten Belfasts und enthält seinerseits eine kleines protestantisches Gebiet. In Cluan Place, einer Wohnsiedlung im Süden des Bezirks, wohnen etwa 100 Protestanten. Beide Seiten fühlen sich belagert. Die Auseinandersetzungen sind ein Kleinkrieg um Territorien, wie er in den letzten 30 Jahren an den Brennpunkten zwischen protestantischen und katholischen Vierteln schon oft geführt wurde.

Das erste Mal kam es hier 1970 zum Showdown, als Kämpfer der IRA mit loyalistischen Paramilitärs in der örtlichen katholischen St. Matthews-Kirche in eine Schießerei verwickelt waren. Seitdem ist die Verteidigung Short Strands eine Glaubensfrage für die katholischen Einwohner. Zwischen den verfeindeten Gebieten steht eine der Mauern, die erst kürzlich um vier Meter erhöht wurde, so dass Wurfgeschosse nicht mehr hinübergeworfen werden können. Allerdings nützt das wenig, denn die Auseinandersetzungen entzünden sich seither an den offen gelassenen Verbindungsstraßen.

Zu Beginn der Auseinandersetzungen war in Ostbelfast eine Gruppe maskierter und bewaffneter Loyalisten in ein College gestürmt. Sie skandierten »keine Nationalisten in Ostbelfast«, verlangten die Ausweise katholischer Studenten und warnten sie davor, am Lehrbetrieb teilzunehmen. Fünf Tage später setzten Protestanten eine Schule in Brand und bewarfen eine katholische Kirche mit Farbeiern.

Ein Sprecher Tony Blairs betonte, die Gewalt beider Seiten sei nicht zu akzeptieren. Der Premierminister erwarte, dass die zwei Gruppen alles in ihrer Macht Stehende tun werden, um die Gewalt zu beenden. Sinn Féin-Präsident Gerry Adams, der Tony Blair nach den ersten Ausschreitungen in der Downing Street aufsuchte, machte vor allem Konflikte in den Reihen der Unionisten für die Probleme verantwortlich.

Tätsächlich wirdTrimble wegen der zunehmenden Gewalt und den anhängigen Verfahren gegen drei Sinn Féin-Mitglieder, die in Kolumbien festsitzen und beschuldigt werden, mit der dortigen Farc-Guerilla zusammengearbeitet zu haben, von der eigenen Partei und bei der radikaleren Democratic Unionist Party (DUP) immer heftiger kritisiert. Trimbles UUP verlangt, die Sinn Féin aus der nordirischen Selbstverwaltung, die im Zuge des Karfreitagsabkommens von 1998 gebildet wurde, auszuschließen.

Viele von Trimbles Parteigenossen sind grundsätzlich gegen das Abkommen und eine Teilnahme der IRA-nahen Sinn Féin an der Mehrparteienregierung. Vor zwei Wochen mussten die Abkommensgegner allerdings klein beigeben. Sie hatten vergeblich versucht, Trimble zum Rücktritt zu verpflichten, falls die Sinn Féin bis zum 1. Juli nicht aus der Regierung entfernt würde.

Komplikationen stehen auch in dieser Woche bevor, wenn der Oranierorden seinen traditionellen Sonntagsmarsch von Portadown zur Gemeindekirche in Drumcree abhält. Wie in den letzten Jahren will er durch die katholische Garvaghy Road ziehen. Und wie in den letzten Jahren hat die Regierungskommission das verboten. Es steht zu befürchten, dass es in Portadown, dem Wahlkreis Trimbles, zu einer erneuten Belagerung des katholischen Viertels kommen wird. Die britische Armee hat inzwischen ihre Verbände in Nordirland verstärkt.