Tour de France: Die 14. Etappe

Arbeiten am Mythos

Mont Ventoux: Bei der 14. Etappe der Tour de France müssen die Radprofis eine Straße hinauf, die den Beinamen »die Erbarmungslose« trägt.

Beinahe alle Sportarten verfügen über besonders wichtige Orte. Der Fußball hat Old Trafford, das Stadion von Manchester United. Das Tennis hat Wimbledon, und die Motorradrennfahrer haben Le Mans. Die Bedeutung dieser Orte rührt angeblich daher, dass hier außergewöhnliche Dinge geschehen bzw. geschehen sind. In der Berichterstattung werden die genannten und andere Orte häufig wie Wallfahrtsorte behandelt, und kaum ein Reporter unterlässt es, den »Mythos« solcher Sportstätten zu erwähnen. Das offene Reden vom Mythos gibt sich aufgeklärt, ist aber meist das Gegenteil. In der unentwegten Darstellung des Legendären, des Existentiellen und des Schicksalhaften, im Zwang zum Superlativ wird der Mythos reproduziert und so etwas wie eine religiös motivierte Geschichtsschreibung entsteht. Sport und Medien funktionieren hier als Verbund: Der Sport garantiert den Wert der Überlieferung, und die Erzählung steigert die Bedeutung des Sports.

Die Tour de France, als Ereignis selbst der Meta-Mythos des Radsports, hat eine ganze Reihe schicksalsträchtiger Orte hervorgebracht. Einer von ihnen ist der Mont Ventoux. Er liegt in der Nähe der südfranzösischen Stadt Avignon, am Nordrand der Provence. Seit 1336 ist der Ventoux Bestandteil der Literaturgeschichte. In jenem Jahr bestieg der Frühhumanist Francesco Petrarca den 1910 Meter hohen Gipfel und schrieb danach an einen Freund:

»Den höchsten Berg dieser Gegend, den man nicht unverdient Ventosus, den Windumbrausten, nennt, habe ich am heutigen Tage bestiegen, einzig von der Begierde getrieben, diese ungewöhnliche Höhenregion mit eigenen Augen zu sehen.« Das Innovative an Petrarcas Ausflug war, dass er ohne festen Zweck und aus bloßer Neugierde unternommen wurde, weshalb der Wanderer auch bereits auf dem Gipfel darüber zu sinnieren beginnt, ob das eigene Vergnügen an der Natur, also am Irdischen, wohl gottgefällig sei. Solche Gedanken haben das Mittelalter beendet und die Neuzeit möglich gemacht und damit auch die Tour de France, deren Teilnehmer den Ventoux am Sonntagnachmittag hinauffahren müssen.

Der Anstieg von Bédoin auf den Gipfel ist 21 Kilometer lang und umfasst 1 634 Höhenmeter. Die Strecke wird auch »l'Impitoyable« (die Erbarmungslose) genannt. In der Fachzeitschrift Tour wurde ihr Mittelteil, der durchschnittlich neun Prozent Steigung aufweist, so beschrieben: »So brutal, das heißt ohne die kleinste Erholungsmöglichkeit, ist keine Passstraße in den Alpen. Kein Wunder: Die Straße wurde Anfang des 20. Jahrhunderts für Autorennen gebaut. Deshalb hat sie auch kaum Kurven, die diesen Namen verdienen. Die Trasse ist vielmehr lieblos in die Waldflanken hineingeklatscht.«

1970 musste Eddi Merckx, nachdem er den Gipfel als Erster erreicht hatte, sofort in ein Sauerstoffzelt transportiert werden. Doch seine radsportliche Identität hatte der Ventoux bereits drei Jahre zuvor erlangt. Am 13. Juli 1967, einem extrem heißen Sommertag, fiel der ehemalige Weltmeister Tom Simpson, der zum Favoritenkreis der Frankreich-Rundfahrt gehörte, unterhalb des Ventoux-Gipfels vom Rad und verstarb trotz medizinischer Hilfe noch auf der Straße. In Simpsons Trikottasche fanden die Ärzte Amphetaminpäparate. Später wurde bekannt, dass der Brite auch eine erhebliche Menge Alkohol konsumiert hatte. Simpsons Tod war der Augenblick, in dem der Hochleistungssport ein Doping-Problem bekam.

Der deutsche Journalist Hans Blickensdörfer hat über diesen Tag eine Reportage geschrieben; der Text macht deutlich, wie die mediale (Re-) Produktion sportlicher Sensationen funktioniert: »Das schmutzige Weiß der Bergkuppe ist ekelerregend. Wie von der Hand des Teufels geformt, ragt sie aus der flachen Landschaft der Provence in die heiße, flimmernde Luft, fast 2 000 Meter hoch. Ein hässliches, geröllübersätes Ungetüm, das sich der Karawane der Tour de France in den Weg stellt. Der kahle Gipfel des Ventoux, den wir schon seit vielen Kilometern wie eine böse, alptraumartige Vision vor Augen haben, ist jetzt zum Greifen nahe. Es ist das Einsteigen zur Fahrt in die Hölle. Nie hat der Mont Ventoux, Ausgeburt einer widersinnigen Laune der Natur, seinen Namen Teufelsberg mehr verdient, als an diesem Julitag. Als ich wieder nach vorne blicke, sehe ich einen Fahrer mit dem weißen Trikot der britischen Nationalmannschaft. Dieser hagere, fast schmächtige Mann ist ganz offensichtlich nicht mehr Herr seiner Sinne und Muskeln. Er braucht die ganze Breite der Straße, und seine Zickzackkurven erinnern fatal an die eines Betrunkenen. Noch vielleicht hundert Meter kommt er voran. Dann scheint er auf der Stelle zu treten, ehe er sich, ganz langsam, wie in einem Zeitlupenfilm, nach rechts neigt...«.

Der Körper, der Berg, der Wettbewerb, oder: Simpson als menschliches Individuum, der Ort als Landschaft, das Rennen als kulturelle Veranstaltung - all diese ganz unterschiedlichen Dinge werden zu Attributen eines einzigen Gedankens. Er handelt von Schicksal und Bestimmung. Die Methode, mit der die aktuelle Popkultur - mit Selbstironie, mit uneigentlichem Sprechen -, eine Sache zum »Kult« macht, ist von vielen Sport- und insbesondere Radsportberichterstattern nie verstanden worden. Mit ihrem ernsten, feierlichen und identitärem Gebrabbel sind sie trotz krampfhafter Bemühungen um »Lockerheit« über die Kolportage vulgärer Mythen vielfach nicht hinausgekommen. Weil im Radsport die Ereignisorte nicht aus Architektur, sondern aus Landschaft bestehen, die als ewig und endgültig erscheint, bieten sich seine Inszenierungen für para-religiöse Anwandlungen besonders an.

In einer 1999 erschienen Geschichte der Tour de France hält Harald Krämer fest: »Die Bezwingung von Alpe d'Huez ist Sport, Athletik, die Bezwingung des Mont Ventoux ist eine existenzielle Konfrontation.« Eine von ARD und ZDF herausgegebene Broschüre zur diesjährigen Tour de France, die sich »Offizielles Programm« nennt, enthät auch eine größere Geschichte zur 14. Etappe. Sie heißt »Der Fluch des Mont Ventoux«, und sie greift zentrale Elemente aus Blickensdörfers Text auf. »Wer sich auf den Wegen des Weißen Riesen nach oben begibt, fordert das Schicksal heraus. Schon sein Anblick nährt die Zweifel und schürt die Angst: Man fragt sich, was dieser Zweitausender mitten in der Provence, das Meer in Sichtweite, wohl im Schilde führt. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm, er jagt einem Angst ein ...«

Ein erfreulicher Kontrast zu diesem offiziösen Dämonengeschwafel ist ein Bericht, den Amateurjournalisten, aktive Mitglieder des Radsportvereins RSV Forchheim, ins Internet gestellt haben: »6. Tag. Udo Paulsen kommt per Nachtzug nach Avignon und weiter per Rad rechtzeitig kurz vor der Abfahrt zum Ventoux an. Über Malaucène geht es bei 40 Grad hoch über den 1909 Meter hohen Schotterhaufen. Abfahrt über dem Chalet Reynard durch riesige, duftende Lavendelfelder nach Sault. Leicht angeschlagen brauchen einige die Rast im Biergarten.«

Von Ralf Schröder ist soeben erschienen: Radsport. Geschichte - Kultur - Praxis. Verlag Die Werkstatt, 223 S., 16,90 Euro