Die Katakomben von Paris

Stories aus dem Gulli

Die Katakomben von Paris dienen schon immer als Zufluchtsort - für Résistance-Kämpfer, Partymacher und Mikroben.

Beim ersten Mal rutschte mir das Herz in die Hose. Mit Freunden stieg ich in die Katakomben der französischen Hauptstadt hinab.

Kurz nach Mitternacht öffneten sie am Rande einer zugewucherten Baustelle im südlichen 14. Pariser Bezirk ein knapp ein Meter breites Loch. Dazu mussten sie einen schweren, kreisrunden Deckel abheben, der den Blick auf einen senkrecht absteigenden Schacht freigab. Mindestens 15 Meter ging es kerzengerade nach unten. In Abständen von circa 40 bis 50 Zentimetern waren Metallsprossen in dem engen Schacht angebracht. Doch gleich zu Anfang fehlten drei Sprossen oder waren weggebogen. Kein sehr beruhigender Anblick.

Da hinunter steigen? Ich? Die anderen hatten mir zwar versichert, im schlimmsten Fall könnte ich gar nicht senkrecht nach unten fallen, da ich mit meinem dicken Rucksack stecken bleiben würde. Beruhigend fand ich das nicht. Aber die Freunde störten sich nicht daran. Schließlich wollte ich auch nicht abseits stehen und kletterte klopfenden Herzens hinterher. Oben verschloss der letzte Teilnehmer unserer kleinen Expedition den Schacht, indem er den schweren Deckel zurück an seinen Platz zog. Später bin ich noch öfter durch den gleichen Einstieg hinabgeklettert. Inzwischen sind auch die oberen Metallsprossen repariert, von Liebhabern der verbotenen Ausflüge in die Katakombenwelt.

Nicht überall ist der Zutritt zur Welt unter Paris illegal. Ein kleiner Teil des dichten Netzes aus Gängen und Tunnels ist für bezahlende Neugierige und Touristen geöffnet, in der Nähe der Station Denfert-Rocherau der Schnellbahn RER. Hier dürfen sie ein paar Minuten lang Gruseln simulieren, zumal an dieser Stelle werbewirksam Knochen und Schädel unter Tage aufgestapelt wurden. Doch was die Teilnehmer an dem Touristenvergnügen für »die Pariser Katakomben« halten, ist nur ein winziger Ausschnitt davon - und bestimmt nicht der interessanteste.

Ansonsten wacht eine Sondereinheit der hauptstädtischen Polizei darüber, dass niemand in dem unterirdischen Netz herumspaziert: die IGC, die Inspection générale des carrières. Sie entstand im 18. Jahrhundert als königliche Sondereinheit. Damals kontrollierte sie die Bergwerke (carrières) im Pariser Untergrund, woher sie auch ihren Namen hat.

Denn so entstand das, was heute - im Durchschnitt 30 Meter unter der Pariser Straßendecke - ein weiteres Netzwerk unterhalb der Metro und des Kanalisationssystems bildet. Aus den Gängen und Tunneln wurden - teilweise seit dem Mittelalter - die Steine gewonnen, aus denen in früheren Jahrhunderten Paris erbaut wurde. In der Haussmannschen Hauptstadtarchitektur des 19. Jahrhunderts hatten die Muschelkalkplatten von unten Hochkonjunktur. Um dieselbe Zeit entdeckte man einen anderen Nutzen der Katakomben: In Seuchenperioden entleerte man die überfüllten Friedhöfe einfach nach unten, weil dort Platz war. In den Tunnels, die unter den Friedhof von Montparnasse führen, stößt man auf wirre Knochenhaufen.

In manchen Seitenarmen des dichten Katakombengeflechts kann man noch in Stein oder Metallplatten gehauene Inschriften finden, die der Orientierung in den damaligen Bergwerksstollen im 18. Jahrhundert dienten. An vielen Stellen stößt man auf Angaben, unter welcher Straße man sich gerade befindet. Dennoch ist es angesichts des weitverzweigten Netzes gut möglich, sich »unten« zu verirren. Ein Freund, der sich in einer Nacht von seiner Gruppe getrennt hatte, da er unvorsichtigerweise meinte, den nahen Ausgang allein zu finden, brachte bei dieser Gelegenheit vier Tage in den Katakomben zu. Der Rekord liegt übrigens bei elf Jahren: Im späten 19. Jahrhundert hatte der Hausmeister eines Pariser Krankenhauses herausgefunden, dass er sich auf dem Umweg durch die unterirdischen Gänge mit Rotwein aus dem Keller eines benachbarten Bürgerhauses versorgen konnte. Doch hatte er bei einer solchen Gelegenheit zu tief ins Glas geschaut. Sein Skelett wurde elf Jahre später aufgefunden. Es wurde dank seines Schlüsselbunds identifiziert.

Aber es gibt auch regelrechte Profis, die sich unterirdische Stadtpläne angelegt haben und die sich notfalls auch ganz allein zurecht finden können. Sie liefern sich mit der ICG ein regelrechtes Katz-und-Maus-Spiel. Einmal erwischt werden kostet ungefähr so viel wie das Überfahren einer roten Ampel.

Besonderer Beliebtheit erfreuen sich die Katakombengänge seit einigen Jahren in der Hausbesetzer-, Alternativ- und unabhängigen Künstler-szene, zu der auch meine ortskundigen Freunde zählen. Für sie bieten die Katakomben eine Möglichkeit, sich unkontrollierte und kostenlos zugängliche Freiräume zum Partyfeiern bei Kerzenschein, mit Gitarrenklang und Kiffen zu erschließen.Graffitikünstler können ungestört ans Werk gehen. Größere unterirdische Hallen wurden so ausgestaltet, mit Statuen und modernen Höhlenmalereien; sie erhielten Namen wie La grande plage (Der große Strand). Sie erwecken ein Gefühl, als hätte man den verborgenen Tempel einer Maya- oder Inka-Zivilisation entdeckt.

Aber auch in weniger alternativ geprägten Kreisen hat man den Charme der Katakomben entdeckt. Besonders in den achtziger Jahren gehörte es im Milieu der Jeunesse Dorée zum chic, für Feten in die Katakomben abzutauchen. Die anderen Nutzer waren davon wenig begeistert.

Die Welle ist wieder abgeklungen, aber eher kommerziell orientierte Interessenten verkaufen mittlerweile Pläne der Katakomben an Schickeria-Touristen. Die Alternativkultur weiß sich allerdings zu wehren. Auch wir haben das zu spüren bekommen: Bei einer ausgedehnten Katakombentour gerieten wir unversehens in die geruchlosen, aber dichten Schwaden einer Nebelgranate. 400 Meter lang durften wir uns durch dichten Qualm hindurcharbeiten, und trotz unserer Taschenlampen sahen wir kaum die Hand vor Augen. Eine andere Gruppe, die uns für Eindringlinge aus der Schickeria gehalten haben muss, hatte uns die Überraschung bereitet.

Nicht erst in jüngster Zeit sind die Katakomben Schauplatz von Kämpfen, und mitunter wurden sie wesentlich erbitterter geführt. Als im Frühjahr 1871 die Commune von Paris durch Truppen aus dem reaktionären Versailles blutig niedergeschlagen wurde, fanden einige Kommunarden vor dem Blutrausch der Versaillais hier Zuflucht. Deshalb wurde ein Teil der Katakomben, vor allem im proletarischen Pariser Norden und Nordosten, damals zugeschüttet. Umgekehrt nutzten auch die siegreichen Armeen die Stollen unter der Hauptstadt. Dorthin warfen sie nämlich oft die Leichen der zu Zehntausenden abgeschlachteten Kommunarden. Und im Zweiten Weltkrieg flüchteten sich Résistance-Gruppen vor der Besatzungsmacht in die Tunnel - aber auch die Gestapo nutzte sie als geheimes Quartier.

Neue Probleme warf der Katakombentourismus der achtziger Jahre auf. Zwar leben weder Tiere noch Pflanzen in der lichtlosen Welt. Aber Bakterien und andere Mikroben konnten an diesem Ort teilweise Jahrhunderte überdauern, während sie »oben« ausgerottet wurden. Vor einigen Jahren diagnostizierte man bei Clochards Krankheiten, die bereits seit Jahrzehnten als ausgerottet galten. Man stellte fest, dass die Krankheitskeime vermutlich von jungen Leuten aus den Katakomben mit nach oben gebracht wurden. Bei ihnen selbst traten die Epidemien zwar nicht auf, da moderne hygienische Standards diese besiegt hatten - doch die Obdachlosen wiesen nicht die gleichen Abwehrmechanismen auf.