Machtkampf in Nordafghanistan

Teilen, herrschen und kämpfen

Der Norden Afghanistans wird von den Warlords Rashid Dostum und Atta Mohamed kontrolliert. Die Uno versucht zu vermitteln, kann aber Kämpfe und Plünderungen nicht verhindern.

Die Taliban sind besiegt, aber der Krieg in Afghanistan ist noch nicht vorbei. Denn nun kämpfen diejenigen, die sich kurzfristig gegen die Armee der Koranschüler zusammengeschlossen hatten, untereinander um die Macht. In der vergangenen Woche wurden wieder einmal Gefechte in Afghanistans Norden gemeldet. Diesmal aus Baba-Ewaz, der größten Stadt des Sholgara-Distriktes.

Erst Ende Juni hatte es Kämpfe im angrenzenden Sari Pul-Distrikt gegeben. In dieser Region, südlich von Mazar-i-Sharif, der größten Stadt des Nordens, ist die Lage am explosivsten. Dort verläuft die ausgefranste Grenze zwischen den lokalen Warlords, die mit den zwei großen Kriegsfürsten des Nordens, Atta Mohamed und Rashid Dostum, verbündet sind.

In Mazar-i-Sharif, der verlockenden Beute des Nordens, haben beide Fraktionen ihre Truppen positioniert und die Regierungsposten unter sich aufgeteilt. Eigentlich hätten beide nach Verhandlungen der Uno-Mission in Afghanistan (Unama) im Februar dort eine gemeinsame Polizeitruppe von 600 Mitgliedern aufstellen sollen. Alle anderen Soldaten sollten Mazar-i-Sharif verlassen. Aber nun gibt es in der Stadt mehrere jeweils zu einer Fraktion gehörende Polizeitruppen, deren Gesamtzahl die vereinbarte Mannschaftsstärke weit übersteigt.

Diese »Polizisten« haben sich in leeren Kasernen, Verwaltungsgebäuden, Häusern und Hütten an der Straße eingerichtet und fahren auf Kastenwagen und mit Panzerfäusten bewaffnet durch die Stadt. Wenn es ihnen passt, stellen sie einfach einen Stuhl auf die Straße, ziehen eine Schnur an ihm entlang und kontrollieren die Autos. Alle tragen dieselben Uniformen. Es ist nicht zu erkennen, zu welcher Fraktion sie gehören.

In den Ministerien herrscht mehr Klarheit. Dostums Partei Junbesh-e Milli bekam das »Außenministerium«, Atta Mohameds Jamiat-e Islami das »Innenministerium«, und alle beide, sowie die Hizb-i Wahdat der schiitischen Hazara, die dritte Fraktion in Mazar-i-Sharif, haben sogar ein eigenes »Ministerium für Frauen und Soziales« eingerichtet.

Die Unama kann bei dem Machtkampf nur zuschauen und versuchen, die verfeindeten Fraktionen an einen Tisch zu bringen. Dann treffen sich Rashid Dostum und Atta Mohamed, versichern sich gegenseitige ihre Hochachtung - sagen die, die schon dabei saßen - und bilden eine gemeinsame Kommission. Dann gehen sie nach Hause, um den nächsten Zug gegen ihren Konkurrenten zu planen.

Die beiden Warlords misstrauen sich zutiefst, denn sie kennen sich schon sehr lange. Beide sind alte Recken des über zwei Jahrzehnte dauernden Krieges. Der Usbeke Rashid Dostum, ein Ingenieur und ehemaliger Gewerkschaftsfunktionär der KP-Regierung, kämpfte zunächst auf der Seite der Sowjetarmee und dann gegen sie. Außer mit den Taliban war Dostum schon einmal mit jeder Fraktion in Afghanistan verbündet, hat sich aber auch schon mit jeder bekriegt.

Sein Konkurrent Atta Mohamed ist Tadschike, noch als Gymnasiast schloss sich der Sohn eines reichen Teppichhändlers den Mujahedin an, um gegen die Sowjetarmee zu kämpfen. Fotos aus dieser Zeit zeigen ihn mit dem langen Bart des frommen Muslims. Heute trägt er in der Öffentlichkeit jedoch zumeist einen Nadelstreifenanzug.

Trotz ihrer unterschiedlichen Biografien denken und handeln beide sehr ähnlich. Sie betreiben den Krieg als Geschäft, und in diesem Metier gibt es keine Freundschaften. Aus jahrelanger Erfahrung wissen sie, dass sie sich nicht arrangieren können und dass sie keine Schwäche zeigen dürfen.

Am Ende wird nur einer von ihnen übrigbleiben, weil sich außerhalb der von ihnen direkt kontrollierten Gebiete die kleineren Fraktionen und lokalen Warlords, deren Unterstützung sie beide brauchen, immer um den Stärkeren gruppieren. Und da hat Atta Mohamed im Augenblick klar die Nase vorn. Denn er kann auf die Unterstützung der mächtigen Jamiat-Partei zählen, die in Kabul den Verteidigungs- und den Außenminister stellt, und die die eigentliche militärische Macht in Afghanistan in den Händen hält.

Dostum wurde in der Regierung nach der Loya Jirga nur stellvertretender Verteidigungsminister sowie Spezialbeauftragter für den Norden - beides beeindruckende Titel, aber keine wirklichen Machtpositionen. Er muss deshalb seiner Klientel lokaler Warlords zeigen, dass mit ihm noch zu rechnen ist, wenn er nicht langsam aus dem Norden vertrieben werden will.

Dostum und Atta Mohamed haben selbst nur ein paar tausend Kämpfer zur Verfügung, die sie direkt oder über ihre Posten aus dem Regierungsbudget bezahlen. Aber die Vielzahl von lokalen Warlords in den ländlichen Regionen und Dörfern wechseln schnell die Allianzen, wenn sie sich einen Vorteil davon versprechen. Wie ihre mächtigeren Herren besteuern sie die Bevölkerung. Oft bekommen sie den zehnten Teil der Ernte, manchmal lassen sie sich in Geld auszahlen. Einige Warlords erpressen sogar Abgaben von den Bewohnern der Flüchtlingslager. Es kommt aber auch vor, dass die Bevölkerung ihren »Beschützern« ein Schnippchen schlägt. So zum Beispiel vor ein paar Wochen, als acht Dörfer im Sari Pul-Distrikt von Atta Mohameds auf Dostums Seite wechselten, weil sie sich zu stark besteuert fühlten.

Durch diese wechselnden Loyalitäten entstehen dann so absurde Allianzen wie die zwischen General Dostum und der islamistischen Fraktion Gulbuddin Hekmatyars. Unter anderem beherrscht sie ein paar Dörfer rund 50 Kilometer westlich von Mazar-i-Sharif. Damit auch wirklich jeder sieht, womit die Bewohner ihr Geld verdienen, legen sie ihre Cannabis-Plantagen direkt an der Landstraße an. In diesen Dörfern leben Paschtunen, und es gibt sehr starke Indizien, dass Dostums Truppen nach der Niederlage der überwiegend paschtunischen Taliban eine große Zahl von Gefangenen massakriert haben.

Die von der Bevölkerung erhobenen Abgaben dürften kaum ausreichen, um die Truppen Dostums und Atta Mohameds mit oftmals fabrikneuen Waffen und Geländewagen auszurüsten und das Verteilungsnetz ihrer lokalen Satrapen zu bezahlen. Deshalb liegt nahe, dass sie sich durch den Opium- und Heroinhandel finanzieren. Die zwei wichtigsten Schmuggelrouten nach Europa führen im Westen durch Dostums Region und im Osten durch die der Jamiat. Möglicherweise beliefern auch einige Nachbarländer die beiden mit Nachschub, um ihren jeweiligen Favoriten im Kampf um den Norden zu fördern, oder das Land zu destabilisieren, weil sie ein geeintes, islamisch-konservatives und waffenstarrendes Afghanistan als Bedrohung empfinden.

Nicht selten ist in der Politik ja die Geduld eine Tugend, aber im Fall der beiden Warlords wird sie nicht zum Erfolg führen. Denn es gibt keinerlei Anzeichen, dass Dostum oder Atta Mohamed in absehbarer Zeit die Ressourcen ausgehen werden. Und dass sich in diesem Klima der bewaffneten Konfrontation der eine oder andere aufgefordert fühlt, sein Gewehr nicht nur gegen den gerade feindlichen Kriegsherren eizusetzen, bekommen nicht nur die Menschen in der Region, sondern auch die Hilfsorganisationen zu spüren. Sie wurden ausgeraubt, ihre Fahrzeuge gerieten unter Beschuss, und im Juni vergewaltigten sieben Milizionäre eine europäische Helferin. Niemand wurde dafür bisher zur Rechenschaft gezogen.

Deshalb hat der Koordinierende Rat der Hilfsorganisationen in Afghanistan Ende Juni den UN-Sicherheitsrat aufgefordert, Soldaten der Internationalen Sicherheitstruppe (Isaf) auch im Norden Afghanistans zu stationieren. Und viele Bewohner von Mazar-i-Sharif wünschen sich das so sehr, dass vergangene Woche in der Stadt schon das Gerücht umlief, der Termin dafür sei sogar schon auf Mitte Juli festgelegt.

Am vergangenen Donnerstag warnte Nigel Fisher, Vizerepräsentant der Uno für Afghanistan, das Land werde in die Hände der Warlords fallen, wenn die internationale Finanzhilfe weiterhin so spärlich bleibe. Die Bereitschaft der UN-Mitgliedsstaaten, sich auf eine Ausweitung des Isaf-Mandats und damit auf eine mögliche Konfrontation mit den Warlords einzulassen, dürfte noch geringer sein als ihre Bereitschaft zu einem größeren finanziellen Engagement.