Wohin in Paris?

TNT im Buchformat

Kritik in Paris - nein, die findet man natürlich nicht an der Sorbonne. Dort verwest jeder kritische Gedanke im Akademismus, wenn nicht die Auflösung des wissenschaftlichen Denkens organisiert wird - dass Madame Tessier den Doktortitel für ein astrologisches Textchen bekam, war nur das jüngste Beispiel dafür.

Nicht weit von diesem Ort des Grauens jedoch findet sich die Buchhandlung Ivrea - aus der Hektik des Boulevard Saint Michel rein in die Rue des Ecoles, nach einigen hundert Metern kommt man zu dem lauschigen, etwas verwilderten Place Paul Painlevé, und dort, an der Ecke zur Rue de Sommerard, findet sich der Laden - ein kleines intellektuelles Sprengstoffdepot. Kein Platz für Frühaufsteher - erst nachmittags um 15 Uhr werden dort die Türen geöffnet. Aber aufgeweckt sollte man sein, um das Sortiment entsprechend würdigen zu können - ein Ausschnitt aus dem »Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit«.

Da gibt es Machiavelli zum Beginn der modernen Politik, aus der Philosophie Spinozas Ethik, Gedichte von Omar Khayyam aus dem Persischen oder Schriften Baltasar Gracians aus Spanien. Zur französischen Revolution Saint-Just und die »Revolutionären Schriften« von Anarchasis Cloots. Und weil die Revolution kein Deckchensticken ist, Clausewitz über militärische Strategie und Taktik. Texte von Marx natürlich - Philosophische Werke, aber auch die Korrespondenz von Groucho. Dann die Anarchisten: Bakunin komplett oder etwa Boris Savinkovs »Erinnerungen eines Terroristen«, der die Geschichte der sozialrevolutionären Kampforganisation zwischen revolutionärer Ethik und Funktionalisierung durch den zaristischen Geheimdienst beschreibt.

Den nächsten Schwerpunkt bildet der Aufschwung der Revolution ab 1917. Und die ging einher mit der Kritik aller gesellschaftlichen Bereiche: Zur radikalen Negation der Kunst gibt es Texte von und über Dada, zur Psychoanalyse Werke von Georg Groddeck, Karl Kraus zur Sprachkritik, Karl Korsch als Gegengift zur Entschärfung des Marxschen Werks.

Nächste Station: der Stalinismus. Dazu etwa der Bericht des kroatischen Kommunisten Ante Ciliga über zehn Jahre im »Land der Lüge«, Boris Souvarines Stalin-Biographie oder von dem italienischen Trotzkisten Bruno Rizzi »Die UdSSR: Bürokratischer Kollektivismus«, in dem die SU bereits Ende der dreißiger Jahre als Klassengesellschaft analysiert wird.

Und Orwell, Orwell, Orwell - einer der wenigen Intellektuellen, die sich in den Auseinandersetzungen ihrer Zeit immer auf der richtigen Seite positionierten: im spanischen Bürgerkrieg auf der Seite der Revolution, im Zweiten Weltkrieg gegen die Nazis, dann gegen die Stalinisten.

Dann Mai '68: klar, ohne die Situationisten geht da gar nichts. Die von ihnen entwickelte Kritik findet ihre Fortsetzung etwa mit der 1976 veröffentlichten Schrift »Der soziale Krieg in Portugal« von Jaime Semprun, der die proletarische, antibürokratische Strömung in der so genannten Nelkenrevolution untersucht. Von 1978 ein Buch von Rafael Pallais zur Kritik des »unterentwickelten Bewusstseins« in der Dritten Welt unter besonderer Berücksichtigung Nicaraguas. Die beiden letztgenannten Bücher sind Restbestände aus dem Verlag Champ libre des 1984 unter bis heute ungeklärten Umständen erschossenen Verlegers Gérard Lebovici, der mit Guy Debord befreundet war.

Brandneu schließlich die Übersetzung von Günther Anders' »Die Antiquiertheit des Menschen«. Und das alles auf 20 Quadratmetern - vermutlich die höchste Dichte an Kritik, die in einer Buchhandlung vorstellbar ist.