Ein Jahr nach den Übergriffen beim G 8-Gipfel

Black Box Genua

Ein Jahr nach den polizeilichen Übergriffen beim G 8-Gipfel in Genua sind die Ermittlungen nicht vorangekommen.

Neben der Kirche ist ein kleiner Altar entstanden. Fast täglich wächst der Berg aus Blumen, kleinen Karten, Widmungen, Fotos, Bildern von Che Guevara und römischen Fußballschals in Rot-Orange. Über allem hängt ein großes Tuch: »Carlo lebt«. Am 20. Juli des vergangenen Jahres wurde der 23jährige Carlo Giuliani während des G 8-Gipfels in Genua auf der Piazza Alimonda erschossen. Ein Jahr danach trafen sich mindestens 100 000 Menschen in der norditalienischen Küstenstadt zu einer Gedenkkundgebung.

Ein Wochenende lang gab es Aktionen in der ganzen Stadt. Fotoausstellungen und Dokumentarfilme erinnerten an die Ereignisse, als 300 000 Globalisierungsgegner in Genua auf die Straße gingen. So wurde unter anderem die Diaz-Schule besetzt, die zu einem Sinnbild für entfesselte Polizeiwillkür geworden ist.

»Wir werden nicht einschreiten, solange es keine gewalttätigen Ausschreitungen gibt«, sagte der Polizeipräsident von Genua, Oscar Fioriolli. Tatsächlich hielt sich die Polizei diesmal zurück. Zu groß ist der Schaden, der im letzten Jahr angerichtet wurde. Ein Toter, rund 200 Verletzte und 300 Festnahmen lautete damals die Bilanz.

Für die italienischen Sozialforen war das Wochenende in Genua ein willkommener Termin, um ihre Anhänger zu mobilisieren. Denn in den letzten Monaten wuchsen die inneren Spannungen zwischen moderateren und radikaleren Flügeln, während an den Aktionen immer weniger Leute teilnahmen. Die »Bewegung der Bewegungen« droht wieder in die vielen kleinen Gruppen zu zerfallen, aus denen sie entstanden ist.

Erfolglos blieb dagegen der Annäherungsversuch der Linksdemokraten (DS), der größten italienischen Oppositionspartei. Bei seinem Auftritt auf der Gedenkkundgebung wurde der Fraktionsvorsitzende Luciano Violante niedergepfiffen. Zu sehr hatte er den italienischen Polizeipräsidenten Gianni de Gennnaro verteidigt, den die DS zu Regierungszeiten ins Amt gehoben hatten.

Seine Nähe zu Gennaro scheint Violante auch davon abzuhalten, der Forderung anderer Oppositionsabgeordneter nach einer neuen parlamentarischen Untersuchungskommission zuzustimmen. Sie ist ein weiterer hilfloser Versuch der Mitte-Links-Opposition, Glaubwürdigkeit in der Bewegung zu gewinnen. Zwar war kurz nach den Ereignissen von Genua eine Untersuchungskommission einberufen worden. Doch sie hatte die Arbeit bereits nach zwei Monaten beendet und am Verhalten der Sicherheitskräfte kaum etwas beanstandet - eine Farce.

Der Opposition fällt es schwer, offen auszusprechen, was tatsächlich vorgefallen ist. So muss man sich mit indirekten Zugeständnissen zufrieden geben, wie etwa einem neuen Gesetzesvorschlag des Bündnisses Olivenbaum.

Ein »Ethik-Kodex« soll erstellt werden, der die Sicherheitskräfte daran erinnert, dass die Menschenwürde gewahrt werden müsse und Gewalt nur in Ausnahmefällen angewendet werden dürfe. Folter sei weder anzuwenden, noch zu befehlen oder zu tolerieren. Diese Ausführungen können als ein implizites Eingeständnis der Oppositionsparteien gelten: dass genau dieses Verhalten in Genua nicht die Ausnahme, sondern die Regel war.

Ein Jahr später gibt es noch immer viele Fragen über die Hintergründe der Ereignisse während des Gipfels, etwa über die Rolle der Zivilpolizisten, die sich als Provokateure unter die Demonstranten mischten. Bisher mussten erst drei hohe Polizeibeamte ihr Amt aufgeben. Immerhin laufen inzwischen gegen mehr als 100 weitere Beamte Ermittlungsverfahren wegen der Vorfälle in der Diaz-Schule.

Dass das Beweismaterial gegen die Globalisierungskritiker von der Polizei gefälscht wurde, ist mittlerweile so evident, dass sich der Polizeipräsident Gennaro gezwungen sah, polizeiinterne Ermittlungen aufzunehmen.

Weitere Verfahren laufen gegen zwölf Verantwortliche aus der Genueser Kaserne Bolzaneto. Rund 360 Demonstranten wurden hier während des Gipfels festgehalten, erniedrigt und geschlagen. An den verbalen und physischen Misshandlungen sollen sich auch Ärzte beteiligt haben, die eigentlich für die medizinische Untersuchung der Festgenommen zuständig waren, wie die Zeugenaussage eines anwesenden Pflegers belegt.

Offen bleibt die Frage, warum sich Justizminister Roberto Castelli von der Lega Nord in der Nacht zum 22. Juli in der Kaserne aufhielt, und wie er zu seiner Behauptung kommt, von den Übergriffen nichts bemerkt zu haben.

Auch über das Verfahren gegen den Carabiniere Mario Placanica, der auf Giuliani geschossen haben soll, gibt es Neues zu berichten. Fast gleichzeitig mit den Gedenkveranstaltungen in Genua trat er im staatlichen Fernsehsender Rai auf.

Er habe, sagte der 21jährige, nur in die Luft geschossen. Die Kugel müsse abgeprallt sein, bevor sie Giuliani verletzte. Auch halte er es für möglich, dass jemand anderes geschossen habe. Allerdings wurde schon im letzten Jahr festgestellt, dass die Kugel, die Giuliani tötete, aus Placanicas Beretta stammte.

Das Gerichtsverfahren ist noch nicht abgeschlossen, und Gerüchte gibt es viele. Ein Anwalt der Angehörigen Giulianis, Giuliano Pisapia, geht davon aus, dass Placanica, der seine Wehrpflicht bei den Carabinieri leistet, die Schuld vor einem Jahr auf sich genommen habe, um einen anderen zu decken.

Doch für den Verteidiger von Placanica steht fest: »Der Carabiniere ist von den Italienern bereits freigesprochen worden. Für ein anderes Urteil wird es keinen Raum geben.« Zumindest von der Regierung hat der Anwalt nichts zu befürchten. Während in Genua des Todes von Carlo Giuliani gedacht wurde, organisierte die postfaschistische Alleanza Nazionale (AN) ein Treffen mit Polizisten, die in Genua verletzt wurden.

»Wir dürfen nicht die Angegriffenen mit den Aggressoren verwechseln«, erklärte der Sicherheitsexperte der AN, Filippo Ascierto. Der Abgeordnete hielt sich am 20. Juli des vergangenen Jahres gemeinsam mit seinem Parteifreund, dem stellvertretenden italienischen Premierminister Gianfranco Fini, in der Kommandozentrale der Carabinieri auf.