Der rote Teppich ist ausgerollt

Nach den jüngsten Affären und angesichts der hohen Arbeitslosenzahlen wird ein rot-grüner Wahlsieg immer unwahrscheinlicher. Vor allem die Wirtschaft wendet sich ab.

Ruft man in diesen Tagen in der »Kampa«, der viel gerühmten Wahlkampfzentrale der SPD, an, um sich über die Wahlkampfstrategie der Partei zu informieren, wird man auf die kommende Woche vertröstet. So lange sei der Parteistratege Matthias Machnig noch im Urlaub. Während die SPD im Umfragetief versinkt und bei der Union schon die ersten Sektkorken knallen, erholt sich Machnig womöglich am Strand. Gegen Urlaub ist zwar nie etwas einzuwenden, aber man fragt sich: Sind die Sozis eigentlich noch zu retten?

Es dürfte schwierig werden, denn in den vergangenen Wochen folgte eine Katastrophe auf die andere. Von der Babcock-Borsig-Pleite ging es schnurstracks zur Telekom-Krise und zur Entlassung Ron Sommers, die Gerhard Schröders Image als »Macher« stark beschädigten. Dann folgte der Rauswurf Rudolf Scharpings, nachdem seine Verbindungen zum PR-Berater Moritz Hunzinger (CDU) bekannt geworden waren. Edmund Stoiber sprach von einer »Regierung in Auflösung«.

Nachdem auch der innenpolitische Sprecher der Grünen, Cem Özdemir, der Hunzinger-Affäre zum Opfer fiel (siehe Seite 9), fehlt nur noch, dass Joschka Fischer zurücktreten muss, weil er sich von Otto Graf Lambsdorff Manschettenknöpfe lieh, oder Bundespräsident Johannes Rau, weil er eine platonische Affäre mit Verona Feldbusch hatte. Möglich ist derzeit alles, denn das von den Konservativen einst prophezeite rot-grüne Chaos ist tatsächlich eingetreten, wenn auch anders als gedacht.

Ein Ende des rot-grünen Projekts wäre angesichts der Erfahrungen der vergangenen Jahre nur zu begrüßen, wenn nicht mit Stoiber ein extrem rechter Kanzlerkandidat vor der Tür zur Macht stünde und eine antisemitisch modernisierte FDP. Vor allem die Wirtschaftselite aber will diesen Wechsel. 1998 unterstützte sie noch Schröder. Damals war die Regierung unter Helmut Kohl nach 16 Jahren an der Macht völlig zerschlissen, es gelang ihr nicht mehr, die gewünschten Reformen etwa gegen die Gewerkschaften durchzusetzen.

Dafür bot sich der »Genosse der Bosse« an, der schon als niedersächsischer Ministerpräsident bewiesen hatte, dass er die Interessen der Wirtschaft als seine eigenen zu betrachten in der Lage ist. Er fuhr schon mal mit Ferdinand Piech vom Volkswagenkonzern zum Wiener Opernball, verschaffte Daimler-Benz gegen die Proteste des damaligen grünen Koalitionspartners eine Autoteststrecke im Papenburger Moor oder ermöglichte es dem norwegischen Energiekonzern Statoil, eine Pipeline durch das Wattenmeer zu bauen. Mit Oskar Lafontaine an der Seite, der für die Akzeptanz der geforderten sozialen Einschnitte und der Deregulierungen auf dem Arbeitsmarkt bei den Gewerkschaften sorgen sollte, erschien er vielen Wirtschaftsvertretern als ein Erfolg versprechender Kandidat.

Doch vier Jahre später sieht das Ganze schon wieder anders aus. Die Wirtschaftselite wendet sich von Schröder ab. In einer in der vorigen Woche veröffentlichten Allensbach-Umfrage für das Magazin Capital stimmten 68 Prozent der befragten Personen aus der Wirtschaft, der Politik und der Verwaltung dem Satz zu: »Noch einmal vier Jahre Schröder kann sich Deutschland nicht leisten.« Der Hauptgrund sei die Unzufriedenheit mit der derzeitigen Wirtschaftspolitik.

Nach Meinung von Renate Köcher, der Geschäftsführerin des nicht unbedingt sozialdemokratischen Meinungsforschungsinstituts, rollen die Führungskräfte in Deutschland für Stoiber »regelrecht den roten Teppich aus«. Sie sagt voraus, dass es Schröder auch mit einer Reform des Arbeitsmarktes im Sinne der Hartz-Pläne nicht mehr gelingen werde, das Ruder herumzureißen. Die Regierung vermittle den »Eindruck eines Verfalls«.

Es herrscht »Endzeitstimmung«, konstatierte auch die Süddeutsche Zeitung. »Nichts geht mehr in der deutschen Wirtschaft. Die Stimmung ist mies, und so auch die Lage.« Niemand will mehr investieren, die Börsenkurse fallen seit Monaten, und der Boom der New Economy ist längst vorbei. Gerade aus diesem Bereich rekrutierte sich die so genannte Neue Mitte, die Schröder 1998 an die Macht brachte. Auch viele dieser Leute sind inzwischen arbeitslos. Und die Arbeitslosenzahlen bleiben weiterhin hoch. Dabei hatte Schröder im September 1998 verkündet: »Wenn wir es nicht schaffen, die Arbeitslosigkeit signifikant zu senken, dann haben wir es nicht verdient, wiedergewählt zu werden.«

Noch immer hofft Schröder auf den Wirtschaftsaufschwung, der spätestens in diesem Sommer kommen sollte. Als in der Endphase der Regierung Kohl ein Aufschwung einsetzte, reklamierte Schröder ihn kurzerhand für sich. Er sei der Erwartung auf seine Regierungsübernahme geschuldet, sagte er damals. In dieser Logik gehörte die gegenwärtige Flaute dann wohl schon Edmund Stoiber.

»Es schreit fast nach Mitleid: Mit jedem Tag, den die Bundestagswahl näherrückt, wird die Serie der Hiobsbotschaften für die rot-grüne Regierung länger«, kommentierte am vergangenen Wochenende das Handelsblatt. Nur die antizyklische Steuerpolitik Hans Eichels erhält dort noch gute Noten, man dürfe ihn nicht zum »Pannenminister« abstempeln.

Doch die Handwerksverbände und die Industrie kritisieren schon seit längerem die Reformen der rot-grünen Regierung. Etwa die Verbesserungen des Kündigungsschutzes, nach denen Kleinbetriebe mit mehr als fünf Beschäftigten diese nicht mehr so leicht entlassen können. Der Spiegel zitierte Umfragen, nach denen 65 Prozent der Unternehmen diese Reform als entscheidenden Hinderungsgrund für die Einstellung neuer Mitarbeiter nannten. Ähnliches gilt für die betriebliche Mitbestimmung, die Arbeitsminister Walter Riester (SPD) erweiterte, oder für die hundertprozentige Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die die Bundesregierung bereits am Anfang der Legislaturperiode wiederherstellte.

Die Wirtschaft will im Jahr 2002 etwas anderes. Hans Tietmeyer, der Kuratoriumsvorsitzende der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft skizzierte die Vorstellungen im Handelsblatt: »Wenn wir in Deutschland wieder mehr wirtschaftliche Dynamik und eine deutliche Erhöhung der Beschäftigung erreichen wollen, wird es höchste Zeit, dass wir den Reformstau auflösen und unser Wirtschafts- und Sozialsystem nachhaltig erneuern.« Der ehemalige Präsident der Deutschen Bundesbank sagte auch, was er sich unter »Erneuerung« vorstellt: einen »schlanken Staat«, »Reformen des Sozialsystems« und eine »umfassende Deregulierung des deutsche Arbeitsmarktes«. Er glaubt, dass die Zeit gerade jetzt reif dafür sei. »Auch unter dem Schock aktueller Krisenmeldungen scheint die Reformbereitschaft in der Bevölkerung gewachsen zu sein.«

So könnte sich für die Deutschland AG das vierjährige Intermezzo einer rot-grünen Regierung am Ende doch gelohnt haben. Die sozialen Einschnitte gingen den Unternehmern zwar nicht weit genug und an der einen oder anderen Stelle bediente die SPD sogar ihre eigene Klientel, doch nach vier Jahren rot-grüner Politik scheinen die Leute zu allem bereit.

Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) räumt Schröder inzwischen kaum noch Siegchancen ein. Gab der DGB 1998 noch acht Millionen Mark für eine Kampagne zugunsten eines Regierungswechsels aus, so steckt er heute nur noch zwei Millionen Euro in einen Wahlaufruf mit dem Titel: »Es steht viel auf dem Spiel. Für Arbeit und soziale Gerechtigkeit«. Dieses Mal macht sich der DGB nicht ausdrücklich für eine rot-grüne Bundesregierung stark.

Und dennoch ist die Wahl noch nicht endgültig entschieden. 1994 schien der Sieg Rudolf Scharpings auch schon festzustehen, und dann packte es Kohl doch noch. Aber wenn nicht einmal die Gewerkschaften mehr mithalten und die berüchtigte »Talsohle« einfach nicht durchschritten ist, dann kann Schröder die Wahl nur noch alleine gewinnen.

Vielleicht erweist es sich noch als sein bester Schachzug, als erster Bundeskanzler einem Fernsehduell mit seinem Herausforderer zugestimmt zu haben. Stoiber im direkten rhetorischen Vergleich zu schlagen, ist Schröders letzte Chance. Wenn nicht Machnig im Urlaub noch etwas anderes einfällt.