Legende am Ende

Keine Festnahmen, keine Unterstützerszene. Die Stadtguerilla 17. November war ein Rätsel. Ihre Mitglieder erzählen jetzt alles Mögliche, nur nichts über ihre Motive.

Fassungslos verfolgen die Griechen die Ereignisse der letzten Wochen. In atemberaubender Geschwindigkeit werden die jahrzehntelang vergeblich gesuchten Mitglieder der Stadtguerilla-Gruppe 17. November gefasst. Zugleich gelangen spektakuläre Informationen über das Innenleben der Organisation an die Öffentlichkeit.

Zwar wurden manche dieser Meldungen von den Anwälten der Verhafteten bestätigt. Aber Gewissheit darüber, ob sämtliche dieser Informationen stimmen, und vor allem, wie sie zustande gekommen sind, gibt es nicht. Alles scheint zu einfach, um wahr zu sein.

Phantom mit Familie

Am Anfang steht die vorzeitige Explosion einer Bombe in den Händen von Savvas Xeros am 29. Juni in Piräus (Jungle World, 29/02). Das bringt die Polizei auf die Spur der Gruppe 17. November, die bis dahin die Verantwortung für mehrere Dutzend Anschläge übernehmen konnte, ohne dass je ein einziges Mitglied verhaftet oder auch nur identifiziert wurde. Innerhalb weniger Wochen fallen durch die Aussagen der Verhafteten nacheinander 15 Gruppenmitglieder in die Hände der Polizei.

Erstaunlich ist, dass die Inhaftierten anscheinend dazu bereit sind, mit den Behörden zusammenzuarbeiten und andere zu belasten. Nicht minder überraschend ist das gediegene Leben, das sie geführt haben. Die meisten von ihnen wurden zu Hause bei ihren Familien oder am Strand verhaftet.

Perfekte Konspiration, Effektivität und Linkspopulismus waren die Markenzeichen der Organisation, die sich nach dem Datum der blutigen Unterdrückung des Aufstands gegen die damalige Militärjunta benannte, der 1973 an der Polytechnischen Universität Athen stattfand. Ihre ersten Aktionen - Attentate auf einen ranghohen Vertreter der CIA sowie einen bekannten Folterer der Junta - sorgten für eine gewisse Zustimmung in der Bevölkerung, die sieben Jahre lang unter der von den USA unterstützten Obristendiktatur gelitten hatte.

Im Folgenden boten die ausbleibenden Verhaftungen, die verhältnismäßig zögerlichen Fahndungsmaßnahmen und das Fehlen eines öffentlich wahrnehmbaren politischen Umfelds Anlass für wilde Spekulationen. Wer steckte dahinter? Ältere Maoisten? Die griechischen Geheimdienste? Gar die CIA?

Bis in die achtziger Jahre war der Ruf der Gruppe in Teilen der Linken und der Bevölkerung widersprüchlich. Einerseits galt sie als »Rächerin«, andererseits hegte man den Verdacht, es handle sich bei ihr um eine Organisation, die von staatlichen Stellen zumindest beeinflusst war.

Im abgelaufenen Jahrzehnt wurden ihre Bekennerschreiben vollends zu sozialen, nationalistischen und antiamerikanischen Pamphleten, während sich die militanten Aktionen immer häufiger gegen unbekannte und untergeordnete Funktionsträger richteten. Damit verlor die Gruppe alle Sympathien.

Zudem konnten Organisationen wie die KP Griechenlands oder Dikki (eine linke Abspaltung der sozialdemokratischen Pasok) den Linkspopulismus, den Antiamerikanismus und die Ressentiments gegen die Türkei und Europa besser bedienen. Die Ideologie der Gruppe war viel weniger radikal als ihre mörderische Praxis.

Väter und Söhne

Der Priestersohn Savvas Xeros war die erste Überraschung. Ein nur dürftig politisierter Ikonenmaler aus Thessaloniki sollte plötzlich eines der aktivsten Mitglieder des 17. November gewesen sein.

Nach ihm wurden seine beiden Brüder verhaftet. Einer von ihnen, Christodoulos Xeros, ist eine ergiebige Quelle für die Ermittler. Erst am Freitag letzter Woche wurde wegen seiner Aussagen in Athen ein stadtbekannter Syndikalist verhaftet, den die Polizei überhaupt nicht im Verdacht hatte. Savvas und Christodoulos Xeros sind bisher die einzigen, die auch die Verantwortung für nicht verjährte Morde übernommen haben. An ihrer Zusammenarbeit mit der Polizei besteht kein Zweifel.

Das Alter und die Aussagen der Verhafteten deuten darauf hin, dass sich drei Mitgliedergenerationen des 17. November unter den Inhaftierten befinden. Vier gehörten zu den Gründern, die während der Militärdiktatur im Exil lebten. Dazu sollen auch ein Mann und eine Frau zählen, nach denen noch gefahndet wird.

Weitere acht Personen rechnet die Polizei zur zweiten Generation. Allerdings fehle der »kaltblütigste Vollstrecker«, der Bienenzüchter Dimitris Koufodinas. Diese Generation soll zwischen 1983 und 1987 rekrutiert worden sein. 1995 schließlich soll die jüngste Generation hinzugekommen sein.

Legt man ihre Aussagen zu Grunde, ist es kaum vorstellbar, dass diese unpolitischen Menschen einen brutalen bewaffneten Kampf geführt haben sollen. So sagte der dritte der Xeros-Brüder, Vassilis, in seiner Vernehmung: »Mit meinem Bruder Savvas habe ich einige allgemeine Diskussionen darüber geführt, dass die, die Kohle haben, uns das Blut aussaugen, und dass die Amis Geld und Macht genug haben, um die Welt zu zerstören. Ich wusste wenig davon, aber ich habe im Grunde zugestimmt.« Seine Verteidiger bestätigen, dass er dies gesagt hat. Auch die meisten anderen gelten in ihren Bekannten- und Freundeskreisen als politisch wenig interessierte Personen.

Als Leitfigur der Gruppe präsentieren die meisten der Verhafteten und die Polizei den 60jährigen Lehrer Alekos Giotopoulos. Er wurde auf der kleinen südostägäischen Insel Lipsi festgenommen, wo er unter falschem Namen ein beschauliches Leben führte und mit Übersetzungen aus dem Französischen ein Auskommen hatte.

Seine familiäre Abstammung ist eine kleine Sensation: Sein Vater Dimitris Giotopoulos war einer der führenden Köpfe der Archivmarxisten, einer seit 1923 aktiven Gruppierung, die später von Leo Trotzki als offizieller Teil der internationalen Linken Opposition anerkannt wurde. Wegen ihres großen Einflusses in den Gewerkschaften denunzierte die KP sie als »Schustermesserträger«, obwohl es in Wirklichkeit die KP war, die mehrere Hundert Parteimitglieder und andere Linke umbrachte.

Im Zweiten Weltkrieg lösten sich die Archivmarxisten auf, da sie der doppelten Verfolgung durch die Nazis und die Stalinisten nicht standhielten. Viele von ihnen wurden hingerichtet oder ermordet.

Alekos Giotopoulos gibt zu, einen falschen Ausweis besessen zu haben, alle anderen Beschuldigungen weist er zurück. Er will keinen der Verhafteten kennen und schweigt deshalb. Außer den belastenden Aussagen sind die einzigen Indizien gegen ihn ein Fingerabdruck in einem der vier Lagerräume der Gruppe, die in Athen und Thessaloniki gefunden wurden, sowie handschriftliche Notizen auf einer Kommandoerklärung. Das alles sind nicht wirklich zwingende Beweise, um jemanden der Rädelsführerschaft zu überführen.

Im Beichtstuhl

Das Verhalten derer, die jetzt im Knast sitzen, gibt Anlass für neue Spekulationen. Schon länger kursierte das Gerücht, der Staatsapparat sei über die Zusammensetzung der Gruppe informiert. Jetzt wird vermutet, der Staat habe eine günstige Gelegenheit abgewartet, um zuzuschlagen. Für möglich gehalten wird ferner, die Gruppe sei von Agenten infiltriert gewesen sei, die jetzt auspackten.

Eine andere Erklärung für die Redseligkeit ist, dass die Regierung die Aussagen als Gegenleistung dafür verlangt hat, die Verhafteten nicht in die USA abzuschieben. Wegen der Attentate auf ihre Staatsangehörigen könnten die USA eine Auslieferung verlangen.

Es gibt aber auch die Vermutung, Savvas Xeros sei mit Psychopharmaka behandelt worden, die dazu geeignet waren, ein Sonderverhältnis zwischen ihm und seinen Betreuern herzustellen. Seine Freundin Alisia Romero Cortez erklärte vor der Presse: »Das ist nicht der Mann, den ich kannte. Der würde niemals jemanden verraten.« Merkwürdig ist auch, dass Xeros auf Verteidiger verzichtet.

Wegen ihrer Zusammenarbeit mit den Behörden können die Verhafteten nach dem erst vor sechs Monaten verabschiedeten Anti-Terror-Gesetz auf eine recht schnelle Freilassung hoffen. Im Grunde aber ist all das eine spekulative Motivforschung. Vonnöten wäre hingegen eine politische Bewertung.

Dazu gehört, dass nach 27 Jahren des bewaffneten Kampfes niemand mehr da ist, der den 17. November verteidigen würde, nicht ihre Mitglieder, nicht die Linke, und die Bevölkerung schon gar nicht. Abgesehen vom schweigenden Alekos Giotopoulos und zwei Männern, die sich nur selbst belastet haben, plaudern alle anderen offenbar munter drauflos.

Glaubhaften Berichten zufolge reden sie von einem Fehler, von einer naiven Entscheidung oder davon, dass sie sich abseilen wollten, aber Angst vor Drohungen hatten. Jetzt sind sie in Sicherheit. So jedenfalls entsteht der Eindruck, die Verhafteten erlebten die Erleichterung des Beichtstuhls, nur dass statt eines Pfaffens der Staatsanwalt die Beichte abnimmt.

Eine halbwegs politische Erklärung hat offenbar niemand abgegeben, geschweige denn dargelegt, warum er den bewaffneten Kampf aufnahm. Die Öffentlichkeit ist verwirrt. Auch der Zuschauer hätte eine stolze und entschlossene Kämpferpose erwartet. Stattdessen sieht man politisch unreife, reuige, ahnungslose Durchschnittsbürger, die überhaupt nicht zum Bild der hemmungslosen Terroristen passen.

Verblüfft ist auch die Linke, selbst wenn sie den 17. November nicht mochte. Die Trotzkisten und die KP haben sich von jeder Form des individuellen Terrors distanziert. Und die Anarchisten haben den 17. November wegen seiner Verachtung des menschlichen Lebens, wegen der stalinistisch inspirierten Ideologie und Struktur sowie der antitürkischen und nationalistischen Ausrichtung abgelehnt.

Eine weitere Überraschung sind die Kriterien, nach denen die Gruppe ihre Mitglieder rekrutierte. Die Familienbande, die bei so manchen Griechen den Wohnort, den beruflichen Werdegang und die Auswahl des Ehepartners bestimmen, scheinen auch für den Eintritt in die Stadtguerilla maßgeblich gewesen zu sein. Außer den Brüdern Xeros sind weitere Verhaftete miteinander vervettert.

Auch eine andere Besonderheit lässt die Gruppe im Vergleich zu bewaffneten Gruppen anderer Länder als Unikat erscheinen. Nach ihren eigenen Angaben haben viele bei der Vorbereitung und Durchführung der Attentate gar nicht gewusst, gegen wen sie sich richteten. Sie wollen erst am nächsten Tag aus der Zeitung erfahren haben, wen sie da eigentlich ermordet hatten. Eine abenteuerliche Geschichte im Zusammenhang mit politisch motivierten Attentaten, die nicht gegen Bezahlung ausgeführt wurden.

Oder doch? Das bei verschiedenen Banküberfällen erbeutete Geld wird auf sechs Millionen Euro geschätzt. Auch wenn dieser Betrag übertrieben sein dürfte, die bescheidene Lebensführung aller Verhafteten sowie das detaillierte Kassenbuch der Guerilla, das in einem Depot entdeckt wurde und in dem bis hin zu Ausgaben von ein paar Euros alles notiert ist, verweisen auf keine größeren finanziellen Aktivitäten. Wohin das Geld floss, bleibt unklar.

Stimme aus dem Off

Am Mittwoch vergangener Woche tauchte eine sensationelle, mit »17. November« unterzeichnete Stellungnahme auf. In diesem an Eleftherotypia geschickten Schreiben, das die Tageszeitung mit einer zweiten Ausgabe am selben Tag landesweit verbreitete, wird die Verhaftung von Mitgliedern eingeräumt. Das sei aber nicht das Ende der Gruppe. Es verhindere keine künftigen Aktionen, sondern verzögere sie nur. Manche der Verhafteten seien Unbeteiligte, andere Teile der Gruppe seien unversehrt.

Die Polizei und die Medien bezweifeln die Echtheit dieser Erklärung. Nicht grundlos, denn der Stil und der Inhalt heben sich deutlich von früheren Dokumenten ab. In der Erklärung ist jedoch davon die Rede, die Polizei habe belastendes Video- und Fotomaterial über den 1997 ermordeten Reeder Kostas Peratikos, das sich in einem der entdeckten Depots befunden haben soll, nicht veröffentlicht.

Während die Sicherheitskräfte dies abstreiten, wird in dem Schreiben angekündigt, Kopien dieses Materials zu verbreiten. Sollte es dazu kommen, wäre die Fortexistenz der Gruppe wohl bewiesen. Bis dahin aber lässt sich nichts Sicheres über die Authentizität des Schreibens sagen.

Dabei gibt es sogar Auskunft darüber, wo das verschwundene Geld geblieben sein soll. Man habe die Beute für Kleidung, Ernährung und medizinische Versorgung von Armen verwandt, die dem »Sozialstaat unbekannt« seien. Ein merkwürdig später Hinweis auf publicitywirksame Robin-Hood-Aktionen.

Die Anschläge werden zumeist gerechtfertigt. Aber es wird auch, was es zuvor nicht gab, Bedauern über die »unschuldigen Opfer des Krieges« geäußert. Zu ihnen zählt der Student Thanos Axarlian, der 1992 bei einem misslungenen Bombenattentat auf den damaligen Finanzminister Theodoros Paleokrassas ums Leben kam und seitdem als Symbol des Kampfes gegen den Terrorismus gilt. »Sein Schatten wird uns folgen, bis wir ihm begegnen«, heißt es in deutlich religiösem Ton.

Der letzte Mordanschlag der Gruppe, der im Sommer 2000 dem britischen Militärattaché Stephen Saunders (Jungle World, 25/00) galt, wird hingegen verteidigt, da er im Kosovo-Krieg als Offizier für den Tod von Zivilisten verantwortlich gewesen sei.

Fit für die Spiele

Was immer diesem Schreiben folgen mag, schon ist klar, dass die Pasok-Regierung die Gewinnerin dieser Affäre ist. Ministerpräsident Kostas Simitis und Sicherheitsminister Michalis Chrisochoidis stehen als Helden da, die Unmögliches erreicht und spielerisch den prachtvollsten Triumph der letzten Jahrzehnte eingefahren haben.

Justiz und Polizei agieren so vorsichtig, dass Menschenrechtsorganisationen und Linke keine Kritik am Umgang mit den Verhafteten vortragen. Wie sollten sie auch, wenn sogar die Terroristen zufrieden sind?

Die meisten sind aussagebereit, einige verzichten auf einen Rechtsbeistand, und manche haben sich sogar öffentlich bei der Staatsanwaltschaft dafür bedankt, dass die für sie hergerichteten Zellen schön und gemütlich seien. Angesichts des Falles sind ihre Haftbedingungen außergewöhnlich: zwölf Quadratmeter mit Toilette, täglich drei Stunden Hofgang, den die Brüder Xeros gemeinsam verbringen dürfen, tägliche Anwaltsbesuche und zweimal wöchentlich Verwandtenbesuche.

Wer unkooperativ ist, bekommt eine andere Gangart zu spüren. So beschwerten sich die Verteidiger von Alekos Giotopoulos über die Haftbedingungen, die »rechtswidrig, unmenschlich und erniedrigend« seien. 23 Stunden am Tag verbringe er in Isolationshaft, auch beim Hofgang sei er allein. Zeitungen, Bücher, ein Fernseher und Schreibmaterial würden ihm verweigert, nur für eine Stunde am Tag dürfe er seine Anwälte empfangen.

Die ersten, die Savvas Xeros nach dem Bombenunfall verhörten, waren Experten von Scotlard Yard, die seit dem Attentat auf Saunders in Griechenland tätig sind und die örtliche Polizei bei der Fahndung unterstützen. Die von allen Seiten offen zugegebene Mitwirkung US-amerikanischer und besonders britischer Dienste lässt das sonst reizbare Nationalempfinden kalt.

Es ist allen klar, dass die Bekämpfung des Terrorismus die notwendige Wende in der griechischen Politik ist, um Griechenland zu einem sicheren Land für die Olympischen Spiele im Jahr 2004 zu machen. Und zu einem unsicheren für jede radikale Stimme.