Ein Jahr nach dem 11. September

Im Ausnahmezustand

Seit dem 11. September bestehen die »Guten« und die »Bösen« auf derselben Form interventionistischer Souveränität.

Nach dem 11. September habe ich alles gelesen. Einen Sammelband über die Geschichte des 11. September und fünf weitere über die Folgen. Ein Buch, dass mir erklärte, der 11. September habe gar nicht stattgefunden, zumindest nicht im Pentagon. Zehn Bücher über Terrorismus. Fünf Biografien über Ussama bin Laden. Zwei Bücher über Afghanistan. Drei über al-Qaida. Ich habe Bücher verschlungen, die die steigende Gefahr islamistischer Bedrohung beschworen, und solche, die behaupteten, der Stern des Islamismus sei im Begriff zu sinken. Bücher über zukünftige Bedrohungen und Einsatzorte der Allianz gegen den Terror. Darüber hinaus liegt in einem meiner Regale ein etwa 50 Zentimeter hoher Stapel mit Artikeln, die nach dem 11. September über den 11. September erschienen sind.

Die Täter des 11. September, vielleicht sollten wir sie besser die Regisseure nennen, haben diese Überproduktion einkalkuliert. Bei dem Anschlag handelte es sich um das, was Gilles Deleuze und Félix Guattari einmal einen Massenmedien-Akt nannten, eine Handlung also, die Körper mit Hilfe von medialer Aufmerksamkeit bzw. Vermittlung in Aussagen transformiert.

Insofern brauchte die Zerstörung des World Trade Centers auch kein Bekennerschreiben, um verstanden zu werden. Die allgegenwärtige Bilder- und Deutungsmaschine der westlichen Öffentlichkeit lieferte die Interpretation frei Haus. Und eines bewies allein die Tatsache der hysterischen Überproduktion: Es handelte sich um den Ausnahmezustand. Seit dem 11. September wird von den westlichen Regierungen und den Medien ständig wiederholt, dass nun nichts mehr so sein wird wie zuvor.

Allerdings bringt der Overkill an Aufmerksamkeit, Vermittlung und Deutung zugleich ein monumentales Vergessen hervor. Tatsächlich war der 11. Septenber nur sehr kurzfristig präsent in unserem Alltagsleben. Mittlerweile haben andere Geschehnisse, nach denen wiederum nichts mehr so sein wird wie zuvor, jenen Tag verdrängt. Das Vergessen gehört zur Natur des Ausnahmezustandes. Er geschieht ja, so heißt es, ohne Vorwarnung und hat daher keine Geschichte. Wenn man akzeptiert hat, dass das Leben sich in unberechenbaren Sprüngen vollzieht, dann wird die Erinnerung stets aufs Neue gelöscht. Der Ausnahmezustand ist Schicksal, wir machen weiter, bis es wieder über uns hereinbricht.

Dass der Ausnahmezustand keine Geschichte hat, bedeutet im Übrigen nicht, dass bei seiner Auslegung keine historischen Parallelen gezogen werden. Im Gegenteil, das Archiv der Geschichte wird von der Deutungsmaschine geplündert. Doch da die aktuelle gesellschaftliche Praxis außen vor bleibt, der Ausnahmezustand ist ja vorgeblich singulär, bringt der historische Verweis keinen Gewinn für das Verständnis der Situation.

Zweifellos hat der 11. September dem Narrativ des Ausnahmezustandes zum Durchbruch verholfen. Das heißt nicht, dass es dieses Narrativ vorher nicht gab. Tatsächlich ist der Ausnahmezustand Teil des Narrativs des Neoliberalismus. Während im »sozialdemokratischen Kompromiss« der fünfziger Jahre von Stabilität und Planung ausgegangen wurde, sprachen die Kreuzritter des Neoliberalismus stets von notwendiger, schicksalhafter Unbeständigkeit und verschrieben als Rezept Flexibilität.

Vor der Explosion des World Trade Center gab es aber einen weiteren Bestandteil der neoliberalen Erzählung, gewissermaßen eine feindliche Übernahme aus der Zeit davor. Denn das neoliberale Projekt wurde von einer Rhetorik von Reform und Revolution begleitet sowie dem Versprechen, dass mit Globalisierung, Entbürokratisierung und Deregulierung alles immer besser werde.

Schon vor dem 11. September hatte sich diese Erzählung als Lügengespinst entpuppt. Der »Dotcom-Crash« ließ die New Economy als bloße Geldverbrennungsanlage dastehen. Der Vertrauensverlust der so genannten politischen Klasse hatte auch schon vorher erschreckende Ausmaße angenommen. Der 11. September war also das Menetekel vom Ende der Zukunft. Nun regiert offenbar nur noch der Ausnahmezustand. Man geht in Deckung. Wer das nötige Kleingeld hat, der rüstet sich mit Cargo-Hosen, Four-Wheel-Drives, Alarmanlagen und Frühwarnsystemen für das, was da kommen mag.

Nun ist die Regierung des Ausnahmezustandes keineswegs so schicksalhaft, wie die Protagonisten der neoliberalen Hegemonie suggerieren. Tatsächlich sind es die Regierungen, die den Ausnahmezustand forcieren, fortwährend herstellen und perpetuieren. »Politisch«, schrieb der rechte Staatstheoretiker Carl Schmitt, »ist jedenfalls immer die Gruppierung, die sich an dem Ernstfall orientiert.« Souveränität besitze, meinte er an anderer Stelle, wer über den Ausnahmezustand entscheide.

Allerdings ist man keineswegs ohne Grund politisch oder souverän im Schmittschen Sinne, denn es gibt ja stets etwas zu beschützen und zu erhalten. Im Ausnahmezustand wird vorgeblich die politische Einheit, das Gemeinwesen, das Volk gegen Bedrohungen von außen verteidigt. Insofern haben die Politiker bzw. die Souveräne ein vitales Interesse am Ausnahmezustand, vor allem, wenn das Gemeinwesen sozial, politisch und kulturell immer mehr zerfällt.

Während Schmitt unterstellt, die Entscheidung über den Ernstfall werde stets von den äußeren Fakten abgeleitet, tragen die Politiker und Souveräne auch selbst dazu bei, den Zustand erst herzustellen, den sie dann als Ausnahmezustand deklarieren. Heute sind es gerade die Fürsprecher von Ordnung und Sicherheit, welche den Ernstfall benutzen, um legale Bedenken beiseite zu räumen und die eigene Legitimität zu stützen. Und hier sind sich Terroristen und Staaten als politische Gruppierungen und Souveräne im Schmittschen Sinne ähnlich.

Die Attentäter des 11. September haben den Ausnahmezustand inszeniert, um die Verrottung - früher hätte man gesagt: die realen Widersprüche - einer von ihnen abgelehnten Gesellschaft voranzutreiben. Im Bewusstsein der Menschen soll sich Angst ausbreiten, aber auch Einsicht über das herrschende Falsche. Die Inszenierung des Chaos diente der Wegbereitung einer sauberen, substanziellen Ordnung, im Fall der Täter des 11. September handelte es sich wohl um eine von westlichem Denken inspirierte Karikatur des »wahren« Islam. Die Täter gaben mit ihrer Handlung ein Beispiel für Mut und versuchten damit, Legitimität für die Ziele herzustellen.

Selbstverständlich zeigt eine solche Propaganda der Tat vor allem die Schwäche einer Bewegung an und die reale Entfernung der Täter von den Massen, die sie vermeintlich vertreten. Gleichzeitig jedoch liefert sie eine Steilvorlage für die Feinde der Terroristen, die Staaten. Denn sie können nun den Ausnahmezustand erklären. Indem sie vorgeben, diesen zu bekämpfen, höhlen sie das Gesetz immer weiter aus und schaffen dadurch gerade den Raum, in dem der Ausnahmezustand weiter regiert.

So haben die westlichen Staaten - keineswegs nur die USA - in der Folge das Völkerrecht gebrochen, Verträge außer Kraft gesetzt, Lager für »illegale Kämpfer« geschaffen, Militärgerichte für Ausländer etabliert, mit ungesetzlichen Mitteln gefahndet etc. Diese Aushöhlung hat bereits lange vor dem 11. September begonnen, die Selbstermächtigung der Nato im Kosovo ist nur ein Beispiel.

Die Erklärung des Ausnahmezustandes stärkt die Staaten, denn solange der Ausnahmezustand herrscht, solange also die Menschen sich bedroht fühlen, bleibt die Legitimität der staatlichen Akteure erhalten. Ansonsten könnte es nämlich sein, dass dem Souverän die Untertanen weglaufen. Dazu dient der Terrorismus als willkommener Katalysator. Erst bin Laden hat George W. Bush mit der Legitimität ausgestattet, die er nach der US-Wahl sicher nicht hatte. Der Ausnahmezustand stellt aus schierem infantilem Schutzbedürfnis das Vertrauen auf den Staat und die Politiker wieder her, denen ansonsten jeder misstraut.

In diesem Sinne gebe ich Ernst Lohoff Recht, der in der vergangenen Woche an dieser Stelle betonte, dass der 11. September keine Zäsur war. Dieser Anschlag bedeutete lediglich eine Beschleunigung und bislang nicht vorstellbare Vergrößerung des Massenmedien-Aktes.

In den letzten Jahrzehnten wurde man oft mit dem Problem konfrontiert, dass sich die »guten« und die »bösen« Akteure auf der Weltbühne aufs Haar ähnelten. Das Medienereignis des 11. Septembers hat nun klar gemacht, warum. Weil sämtliche Akteure, die Souveränität für sich in Anspruch nehmen nach demselben Schema handeln. Sie inszenieren den Ausnahmezustand als Massenmedien-Akt und verschaffen sich so Legitimität und Handlungsfähigkeit. Die »Guten« und die »Bösen« bestehen also auf derselben Form interventionistischer Souveränität. Und daher kann es auch für eine linke Politik nicht darum gehen, sich in jedem neuen Krieg aus ständig wechselnden Gründen dem nächsten Potentaten an den Hals zu werfen, sondern nur darum, diese Form der Souveränität selbst anzugreifen.

Eine Langfassung dieses Artikels erscheint in der Herbstausgabe der Zeitschrift Ästhetik und Kommunikation