Moving Targets

Die schleichende Rehabilitation des irakischen Regimes setzt die USA unter Zugzwang. Doch die politischen Risiken eines Krieges sind hoch.

Zum 14. Jahrestag der Beendigung des Krieges mit dem Iran verkündete Saddam Hussein die Lehren, die er aus der Geschichte zieht. »Wenn Gier und Arroganz sich vereinigen, führen sie den Unterdrücker nicht nur zur Ungerechtigkeit gegen andere«, dozierte er am vergangenen Donnerstag, denn diese Kombination »verführt ihn zu der Ansicht, unbesiegbare Fähigkeiten und Macht zu besitzen, und wenn er den Weg der Falschheit und Aggression wählt, begeht er die abscheulichsten Taten, und die Folge seiner kranken Einbildung ist, dass er in den Abgrund und dann in die Hölle stürzt.«

Eine recht gelungene Analyse des Krieges gegen den Iran, den Saddam Hussein in dem Irrglauben begann, die Wirren nach der Revolution würden ihm die mühelose Annexion der ölreichen Provinz Khuzistan ermöglichen. Kaum zwei Jahre nach dem Ende dieses ersten Golfkrieges überfiel der Irak dann Kuwait. Damals waren es die USA, die Saddam Husseins Sturz in den Abgrund verhinderten.

Sie versagten dem nach der irakischen Kapitulation im Frühjahr 1991 ausgebrochenen Aufstand nicht nur jegliche Unterstützung, sondern erleichterten dem Regime auch dessen Niederschlagung (Jungle World, 32/00). Die US-Regierung zog den Erhalt seines geschwächten Regimes den unkalkulierbaren Folgen einer Revolution vor. So hätte Saddam Hussein eigentlich einigen Grund, den USA dankbar zu sein. Doch seine Lektion über die Folgen von Gier und Arroganz war an die Addresse der US-Regierung gerichtet, der er im Falle eines Angriffs auf den Irak eine schmähliche Niederlage prophezeite.

Derzeit mehren sich die Anzeichen, dass die USA von der seit 1991 verfolgten Politik der Eindämmung zum Angriff übergehen könnten. Er habe »keinen Zeitplan« für die Entscheidung über einen Krieg, erklärte Präsident George W. Bush am Samstag, doch schon die Debatte über den Krieg hat nicht nur in Bagdad, sondern auch in den europäischen und arabischen Hauptstädten für beträchtliche Unruhe und hektische Aktivitäten gesorgt.

Die Frage, ob der Irak wieder Waffeninspektionen der Uno zulässt, ist in dieser Auseinandersetzung nur ein propagandistischer Nebenkriegsschauplatz. Letztlich geht es für die USA darum, ihre Hegemonie in der Golfregion zu verteidigen. Schritt für Schritt haben europäische und arabische Staaten, im UN-Sicherheitsrat unterstützt von Russland und China, eine Lockerung der Sanktionen durchgesetzt.

Zudem bemühte sich die EU in den vergangenen Jahren recht erfolgreich um bessere Beziehungen zu ölreichen Staaten wie Iran und Libyen, die den USA als Förderer des Terrorismus gelten und boykottiert werden. Die Aussicht, durch die schleichende Rehabilitation des irakischen Regimes noch mehr Boden zu verlieren, stärkte jene Kräfte in der US-Regierung, die einen militärischen Sturz Saddam Husseins befürworten.

Ihre wichtigsten Argumente präsentierte Kenneth M. Pollack, ein ehemaliger Direktor für die Golfregion im Nationalen Sicherheitsrat, im Frühjahr in der Zeitschrift Foreign Affairs. In Zukunft werde es nicht mehr möglich sein, das Embargo aufrechtzuerhalten, denn »immer weniger Nationen respektieren die von den UN auferlegten Beschränkungen«, es sei daher notwendig, »das derzeitige Regime zu beseitigen«. Das von Pollack präsentierte militärische Szenario sieht den Einsatz von mindestens 200 000 Soldaten und bis zu 1 000 Flugzeugen und Hubschraubern vor, eine Bedarfsberechnung, der die meisten Militärexperten zustimmen.

Weniger Einigkeit herrscht über Pollacks Einschätzung, dass sich die europäischen und arabischen Staaten sowie Russland und China letztlich doch den USA anschließen würden, um nicht jeglichen Einfluss auf die Nachkriegsordnung zu verlieren. Viele Analytiker fürchten, das nach dem 11. September aufgebaute Bündnissystem könnte zerfallen. »Ohne Zweifel würden wir die erzielten Gewinne in der arabischen Welt und selbst bei einem Teil unserer europäischen Verbündeten wieder verlieren«, urteilt etwa John Gannon, ein ehemaliger Vizedirektor der CIA.

Mehr noch als deutsche Politiker sorgen sich die Diktatoren und Autokraten der Region wegen der unwägbaren Veränderungen, die ein Sturz des irakischen Regimes wahrscheinlich nach sich ziehen würde. »Sie fürchten vor allem die mögliche Auflösung des Irak oder fortdauernde, vom Irak ausgehende Instabilität«, erklärte Shibley Telhami, Professor an der Universität Maryland, während einer Anhörung im US-Senat Ende Juli.

Ein Bürgerkrieg hätte gefährliche Folgen für die Nachbarstaaten, eine Demokratisierung würde die seit Jahrzehnten gewaltsam gesicherte politische Stagnation gefährden und damit Oligarchien destabilisieren, von deren Herrschaft nicht zuletzt die USA profitiert haben. Zudem befürchten die Machthaber der Region, so Telhami, »eine mögliche amerikanische politisch-militärische Dominanz, die dann den Irak in einer Weise einschließen würde, die das strategische Bild zu ihrem Nachteil ändert.« So musste die US-Regierung feststellen, dass selbst engste Verbündete wie Saudi-Arabien sich von ihrer Politik distanzieren.

Zumindest im Fall des absolutistisch regierenden saudischen Königshauses ist die Abwendung von den USA keine Folge des viel zitierten Drucks der »arabischen Straße« oder der Solidarisierung mit den Palästinensern. Unter der Führung des Kronprinzen Abdullah, der in Vertretung des schwer kranken Königs Fahd faktisch Staatschef ist, deutet sich eine strategische Neuorientierung an, die, möglicherweise im Bündnis mit der EU sowie dem Iran und anderen islamischen Staaten, auf ein Ende der US-Hegemonie zielt.

So dürfte es auch kein Zufall sein, dass die Washington Post am Dienstag vergangener Woche die Thesen publizierte, die Laurent Murawiec, ein Analytiker des think tanks Rand Corp., im Juli vor dem Defense Policy Board im Pentagon vortrug. »Saudi-Arabien unterstützt unsere Feinde«, verkündete Murawiec, es sei daher »der gefährlichste Gegner« in der Region. Für den Fall, dass das Königshaus weiterhin islamistische Gruppen finanziert, sollten die Ölfelder und ausländischen Guthaben des Landes ins Visier genommen werden. Wie der von Murawiec verwendete Begriff »targeted« zu verstehen ist, blieb bei dem Briefing offen, doch die Warnung war auch so deutlich genug.

Murawiecs Ansicht, das saudische Königshaus sei kein verlässlicher Bündnispartner mehr, wird von vielen »Neo-Konservativen« vom rechten Flügel der Republikanischen Partei geteilt. Sie sehen die Etablierung einer von den USA dominierten Regierung im Irak als Mittel, von den Ölexporten Saudi-Arabiens unabhängiger zu werden. Das Militär einzusetzen, um die Erosion der US-Hegemonie aufzuhalten, ist eine riskante, aber möglicherweise die einzige Option.

Zu den bizarren Seiten der gegenwärtigen Debatte gehört es, dass ausgerechnet die reaktionärste Fraktion im US-Establishment jetzt offenbar die bei den Machthabern der Region unbeliebteste Option für die Nachfolge Saddam Husseins propagiert. »Sie unterstützen ein demokratisches Regime im Irak, und sie würden die Ersetzung eines Diktators durch einen anderen nicht unterstützen«, erklärte Sharif Ali bin al-Hussein vom Iraqi National Congress (INC) am Samstag nach einem Treffen mit Vertretern der US-Regierung.