Die Behindertenpolitik

Satt und sauber in 90 Minuten

Die rot-grüne Regierung hat zwar ein Gleichstellungsgesetz für Behinderte verabschiedet. Trotzdem bleibt vieles vage.

In diesen Tagen führen Selbsthilfeorganisationen behinderter Menschen eine Unterschriftensammlung durch. Sie protestieren gegen die Tatsache, dass nach geltendem Recht noch immer der Vergewaltiger einer behinderten Frau mit einem Jahr Freiheitsstrafe davonkäme, während für die gleiche Straftat an einer nicht behinderten Frau im Gesetz mindestens zwei Jahre vorgesehen sind. Diese Ungleichheit wirft ein bezeichnendes Licht auf die Ergebnisse der vierjährigen rot-grünen Behindertenpolitik.

Immerhin einigte sich die Koalition auf ein Gesetz zur besseren materiellen Absicherung Behinderter. Insbesondere behinderte Menschen über 18 Jahre sollen davon profitieren, die ihren Lebensunterhalt nicht durch eigene Erwerbsarbeit bestreietn können und bei denen das Jahreseinkommen der Eltern 100 000 Euro nicht überschreitet. Diese im Rahmen der Rentenreform ausgetüftelte Verbesserung hat jedoch einen Haken, denn das Grundsicherungsgesetz soll erst im Januar 2003 in Kraft treten. Und die Union hat bereits gefordert, dass es fallen müsse.

Seit dem 1. Mai ist dagegen das Gleichstellungsgesetz für behinderte Personen in Kraft, das Barrieren in Verkehrsmitteln, in öffentlichen Anlagen und Gebäuden, in Hochschulen und Verwaltungen beseitigen soll. Wer allerdings wissen will, wann zum Beispiel der öffentliche Nahverkehr behindertengerecht umgerüstet sein soll, sucht im Gesetzestext vergeblich. Eine Zeitangabe fehlt.

Auch gibt es keine Regeln für die private Wirtschaft. Die Barrierefreiheit soll stattdessen in Verhandlungen zwischen Unternehmen und Behindertenorganisationen im Einzelfall verwirklicht werden. Regelungen und Fristen sind flexibel zu gestalten. Angesichts einer derartig offenen Gesetzeskonstruktion müssten behinderte Menschen schon auf Druckmittel zurückgreifen können, um ihre Verhandlungsposition zu stärken und eine Chance zur Durchsetzung ihrer Interessen zu bekommen. Gestützt auf Erfahrungen aus dem Ausland, forderten Behinderteninitiativen deshalb ein Antidiskriminierungsgesetz.

An das Wahlversprechen, ein solches Gesetz zu verabschieden, mögen sich die Sozialdemokraten aber heute nicht mehr gern erinnern lassen. Auch die Grünen sehen dieses Vorhaben derweil als gescheitert an, obwohl es zwischen beiden Parteien fest vereinbart war. Die Benachteiligung von Menschen wegen ihrer Herkunft, ihres religiösen Bekenntnisses, ihrer Behinderung oder ihrer sexuellen Identität sollte damit verhindert werden. Vor allem die Kritik der Kirchen an der Gleichstellung von Lesben und Schwulen hat die SPD dazu bewogen, auf das Gesetz zu verzichten.

Der Sozialrichter Andreas Jürgens, der Sprecher der grünen Bundesarbeitsgemeinschaft Behindertenpolitik, erklärte den politischen Rückzieher mit dem Wunsch von Bundeskanzler Gerhard Schröder, die Wirtschaft nicht zu verprellen. Deshalb ist es entgegen der EU-Richtlinien in Deutschland auch weiterhin möglich, dass Versicherungen und Banken Verträge mit Menschen wegen deren Behinderung oder Herkunft ablehnen.

Die Beispiele zeigen, dass sich die Hoffnungen kaum erfüllt haben, die weite Teile der emanzipatorischen Behinderteninitiativen auf die rot-grüne Regierung gesetzt hatten. Gleichzeitig fand eine Entwicklung zur Anpassung statt, weil Einzelpersonen und Behindertenorganisationen ihre Kräfte darauf verwandten, die gesetzlichen Rahmenbedingungen mitzugestalten.

Radikale Kritik an der Aussonderung und der persönlichen Unterdrückung findet dagegen kaum noch statt. Eine schon immer unterlegene Opposition behinderter Menschen gegenüber den Institutionen und der Bürokratie ist weitgehend in der »Behindertenhilfe« aufgegangen. So konnte Freude aufkommen, als etwa im vorigen Jahr Gina Radtke, einer Sprecherin der Selbstbestimmt-Leben-Initiativen, das Bundesverdienstkreuz verliehen wurde.

Und zu allem Ungemach entpuppt sich die Pflegeversicherung für alte und behinderte Menschen immer mehr als ein Desaster. Es ist ein offenes Geheimnis, dass der medizinische Dienst der Krankenkassen die Pflegeeinstufungen nicht nach dem tatsächlichen Aufwand vornimmt, der für einen Menschen zu leisten ist, sondern mit dem Ziel, der Kasse möglichst geringe Kosten zu verursachen. Deshalb wurden in den vergangenen Jahren immer mehr pflegebedürftige Menschen in die Pflegestufe I eingeordnet, die nur eine neunzigminütige Hilfe am Tag vorsieht. Die Einstufungen in die Leistungsgruppen II und III werden dagegen immer seltener, obwohl die Zahl der Anträge konstant blieb. Für die Betroffenen bedeutet das eine erniedrigende Satt-und-sauber-Pflege. Die Versorgung richtet sich nach der Uhrzeit und nicht nach dem tatsächlichen Bedarf.

Im Artikel 3 des Grundgesetzes heißt es: »Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.« Zweifel am Wert eines Benachteiligungsverbotes sind jedoch spätestens dann angebracht, wenn Richter meinen, dass Toleranz da aufhören müsse, wo Unzumutbarkeit anfängt. So verdonnerte das Kölner Oberlandesgericht Anfang 1998 eine Wohngemeinschaft von geistig behinderten Männern, bestimmte »Ruhezeiten« einzuhalten. Ein Nachbar hatte sich über »Lallen, unartikuliertes Schreien und Stöhnen« beklagt. Diese Geräusche seien, so hieß es in der Urteilsbegründung, »unzumutbar«. »Maßgebend ist dabei nicht so sehr die Lautstärke als vielmehr die Art der Geräusche«, meinte das Gericht.

Angesichts solcher Urteile ist es auch kaum verwunderlich, wenn inzwischen in weiten Teilen der Gesellschaft die vorgeburtliche Selektion behinderter Kinder als moralische Pflicht der Eltern betrachtet wird.

Andererseits scheinen die meisten froh darüber zu sein, die Verantwortung für die auf Hilfe angewiesenen Kinder und Erwachsenen an professionelle Dienstleistungsorganisationen oder traditionsreiche Anstalten delegieren zu können. Die einen, weil sie bei ihrem ständigen Versuch, Reichtum anzuhäufen, nicht gestört werden wollen, die anderen, weil sie alle Kräfte mobilisieren müssen, um nicht in die Armut abzugleiten.

Wer viel Geld hat, kann sich trotz eines hohen Alters oder einer Behinderung alle Annehmlichkeiten gönnen und seine Integration per Scheckheft erkaufen. Wo das nötige Geld fehlt, droht soziale Ausgrenzung. Eine brisante Mischung aus Werturteilen und dem ökonomischen Kalkül des Staates verhindert weiterhin, dass in öffentlichen Räumen behinderte oder alte Menschen eine Rolle spielen.

Der Autor ist Mitbegründer der emanzipatorischen Behindertenbewegung in Deutschland.