Soziale Krise

Keine Ruhe im Karton

Immer mehr Menschen in Argentinien sind gezwungen, vom Müll anderer Leute zu leben.

Buenos Aires, sieben Uhr abends an einem Wintertag. 60 000 Arbeitslose demonstrieren heute wie in jeder Woche für neue Arbeitsplätze. Die Geschäfte und Bars haben wie bei jedem großen Aufmarsch ihre Rollläden runtergelassen und ihren Angestellten frei gegeben, aus Angst vor möglichen Ausschreitungen. Die Stadt scheint sich zu leeren.

Doch bald werden geschäftige Menschen die Straßen des Zentrums bevölkern. Wenn die fast 200 000 Argentinier, deren einzige Lebensmöglichkeit darin besteht, Müll zu sammeln, ihre Arbeit aufnehmen. An jedem Abend ergießt sich diese Masse von Menschen aus den Vororten in die Stadt und verteilt sich rasch auf alle Ecken. Sie schlitzen die Müllsäcke auf, um sie nach verwertbarem Material zu durchwühlen, das sie den wenigen übrig gebliebenen Unternehmen verkaufen.

Die Menschen, die diesen neuen Beruf ausüben, nennt man Cartoneros, Kartonsammler. Sie kommen aus dem Großraum Buenos Aires, aus der Vorstadt mit zehn Millionen Einwohnern, welche die Hauptstadt wie ein Ring umgibt. Bis vor kurzem waren dort Tausende kleine und große Industrieunternehmen ansässig, von denen heute die meisten Bankrott gegangen sind.

Vor dem Ausbruch der Krise im vergangenen Dezember übten, so weiß es die Statistik, schon 20 000 Menschen diese Tätigkeit aus. Sie arbeiteten auf den Mülldeponien, weit entfernt vom Zentrum. Die Ausbreitung der Armut, ausgelöst durch die massenhaften Firmenpleiten und die Kontensperrung, führte zu einer Verzehnfachung dieser Zahl in wenigen Monaten und sorgte dafür, dass die Cartoneros mittlerweile auch die besseren Stadtviertel aufsuchen.

Ganze Familien von Kartonsammlern mit Kindern jeden Alters beeilen sich, die Plastikbeutel zu öffnen, bevor sie von den Müllmännern eingesammelt werden. In den großen Städten in Argentinien kommt die Müllabfuhr täglich. So bleiben den Cartoneros nur drei Stunden Zeit, von neun bis zwölf Uhr abends, um rasch ihre Arbeit zu erledigen. Sie hinterlassen Straßen, die übersät sind mit zerrissenen Müllbeuteln und verstreuten Abfällen.

Paradoxerweise spricht man nun in Argentinien zum ersten Mal in den Massenmedien von der Notwendigkeit des Recyclings. Zum Teil wegen der Nachlässigkeit der Regierenden, zum Teil wegen der Gewissheit, ein riesiges Land zu bewohnen - die Bevölkerungsdichte beträgt nur zehn Einwohner pro Quadratkilometer -, hat es nie eine nennenswerte Umweltpolitik gegeben.

Die Tätigkeit der Kartonsammler ist illegal. Oft werden sie von der Polizei und anderen staatlichen Stellen verfolgt, da die Müllfirmen nach Tonnen eingesammelten Abfalls bezahlt werden. Die Firmen klagen, dass man ihnen den Müll stiehlt.

Der Karton und das Papier verkaufen sich zu einem Kilopreis von 30 Centavos (etwa zehn Eurocents). In einer guten Nacht verdient Magdalena gemeinsam mit ihrem Mann und ihren Kindern zwischen fünf und neun Jahren damit um die neun Pesos (2,50 Euro). Davon muss der Preis für die Anreise noch abgezogen werden. Magdalena kommt aus dem zwei Stunden entfernten Polvorines, mit einem Einkaufswagen als einzigem Arbeitswerkzeug.

Sie kommt mit dem so genannten »weißen Zug«, der von der Eisenbahngesellschaft speziell für die Kartonsammler eingerichtet wurde. Die Waggons haben keine Sitze, damit man mit riesigen Paketen einsteigen kann, die Fahrkarte kostet weniger als die Hälfte des üblichen Preises und erlaubt nicht die Benutzung der Bahnhofstoiletten. Mit ein wenig Glück kann Magdalena einige Sandwiches auftreiben, die von den Ladenbesitzern beim Geschäftsschluss für gewöhnlich weggeworfen werden. An manchen Tagen ist das ihr einziges Essen.

Magdalenas Mann arbeitete bis vor kurzem als Busfahrer und wurde wegen Personaleinsparungen entlassen. Heute abend trägt er das blaue Hemd, mit dem ihn sein ehemaliger Arbeitgeber ausgestattet hat. Er ist einer von mehr als anderthalb Millionen in den letzten zwei Jahren entlassenen Arbeitern und zählt nun zu den 45 Prozent der Argentinier, die in prekären Arbeitsverhältnissen stehen oder ohne Arbeit sind.

Mit Unterstützung kann er nicht rechnen. Eine Art Sozialhilfe wird zwar gerade von der Regierung eingeführt, sie erreicht aber nur zehn Prozent der Menschen in vergleichbarer Situation. »Von Tag zu Tag wird es schwieriger, guten Müll zu finden«, sagt er.

Die Krise brachte einen totalen Einbruch des Konsums mit sich, was sich auch auf die Menge und die Qualität des Abfalls auswirkte. Die Leute verbrauchen weniger und vor allem billigere Güter. Die Menschen, die noch eine Arbeit haben, haben ihre Konsumgewohnheiten geändert, was für manchen Umweltschützer Anlass zur Freude sein könnte. Die starke Abwertung des argentinischen Peso führte dazu, dass die Mehrheit sich importierte Produkte nicht mehr leisten kann. Das ist der Fall bei Einwegwindeln, heute ein Luxusgut, das nur noch für eine kleine Minderheit erschwinglich ist. Der Rest kehrt zurück zur klassischen und wiederverwertbaren Stoffwindel.

Ein ähnlicher Trend lässt sich bei den Verpackungen beobachten. Vielen Marken bleibt kein anderer Ausweg, als die Plastikverpackungen zu ersetzen, die teuer importiert werden müssten. Coca-Cola hat zum Beispiel die alten Glasflaschen wieder in Umlauf gebracht. Man sieht kaum noch Erfrischungsgetränke in Dosen. In den kleinen Geschäften werden wieder Zucker, Öl und Kekse portionsweise verkauft, wie zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Aus diesen Gründen rechnen die Müllfirmen damit, in diesem Jahr 25 Prozent weniger Abfall als im Vorjahr einzufahren, und planen deshalb, ihre Belegschaften zu reduzieren.

Der Rhythmus der Krise, mit seinen 24 000 täglich neu hinzukommenden Armen, sorgte dafür, dass die Versuche des argentinischen Staates, die Kartonsammler in Kooperativen zu organisieren, bereits in ihrem Anfangsstadium scheiterten. Ein solches Unterfangen hätte unter anderem bedeutet, Hallen bereitzustellen, um die gesundheitlichen Risiken bei der Sortierarbeit zu verringern, und Horte für die Kinder der Kartonsammler einzurichten.

Im vor kurzem eröffneten Wahlkampf um das Amt des Bürgermeisters von Buenos Aires ist das eines der zentralen Themen. Einige Kandidaten schlagen vor, den Kartonsammlern den Zugang zur Hauptstadt gänzlich zu verwehren, um das Antlitz der Stadt für den Tourismus zu bewahren. Anderen scheint endlich die Stunde geschlagen zu haben, um das Umweltbewusstsein der Bevölkerung zu stärken. Dennoch überdauern im Augenblick die klassischen Wahlplakate mit den lächelnden Gesichtern der Kandidaten nicht einmal 24 Stunden. Die Kartonsammler reißen sie ab, um einige Gramm Papier auf ihren Wagen zu häufen und einige Centavos mehr in ihre Geldbeutel zu bekommen.

Übersetzung: Timo Berger