Deutsche Wissenschaftler und der Islam

Wir sind die Türken von morgen

Der Islam wird von deutschen Historikern verklärt oder dämonisiert.

Der Türke, so viel weiß der Stammtisch, hat meistens eine große Familie. Dass er zudem oft in Parks rumsitzt und bevorzugt in eng bebauten Wohngebieten grillt, gehört zu den Problemen, mit denen sich auch die Stadtplaner der Metropolen herumärgern. Die »dörflichen Verhaltensweisen« der türkischen Migranten, das weiß auch der Berliner Senator für Stadtentwicklung, Peter Strieder, stören das Zusammenleben im Kleinen.

Deutschen Historikern geht es selten ums Kleine. Entsprechend grundlegend und vor allem überhistorisch sind ihre Urteile. Wenn der liberale Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler vom »Türkenproblem« Deutschlands spricht, geht es ihm weniger um das Problem des Grillens, das sich im Neuköllner Alltag stellen mag. Für ihn steht Deutschland und mit ihm das christliche Europa vor ganz anderen Herausforderungen.

Wehler warnte kürzlich in der Zeit vor dem »riskantesten Unternehmen in der Geschichte der europäischen Einigung« und erklärte vor dem 44. Deutschen Historikertag in Halle den geplanten EU-Beitritt der Türkei zur Schicksalsfrage, die in diesem Jahr zu beantworten sei.

Der Beitritt der Türkei, das machte der Historiker in verschiedenen Interviews und Artikeln der letzten Woche deutlich, sei kein ökonomisches oder politisches Problem. Nicht das soziale Gefälle zwischen den mitteleuropäischen Staaten und der Türkei drohe die EU zu zerreißen, sondern ein Clash der Kulturen sei zu befürchten. Am Bosporus stießen die »jüdisch-griechische-römische Antike, die protestantische Reformation und die Renaissance, die Aufklärung und die Wissenschaftsrevolution« mit der »Inkarnation der Gegnerschaft«, der islamischen Türkei, zusammen.

Angesichts von »65 Millionen muslimischen Anatoliern« bedrohe der Versuch einer »politischen Union über Kulturgrenzen« hinweg das Überleben der westlich-europäischen Zivilisation. Schließlich seien »die Moscheen in Atatürks Republik wieder überfüllt«, »europäische Ehefrauen« würden zwischen Istanbul und Antalya diskriminiert, und die Geburtenrate unter türkischen Frauen steige um 2,4 Prozent pro Jahr. Und, vor allem, bereits heute »werfen 32 000 in radikalen Organisationen vereinigte Muslime hinreichend Probleme« auf. In Deutschland, versteht sich.

Zum 11. September, zwölf Jahre nach dem ersten Golfkrieg, hat der Alltagsrassismus der Straße erneut in die Leitartikel und Kommentare gefunden, wenngleich auf intellektuell etwas höherem Niveau. Peter Scholl-Latour, der zuletzt mit Aussagen wie »Arafat sieht semitischer aus als Sharon« seinen Beitrag zur Reduktion gesellschaftlicher Komplexität im Nahen Osten leistete, stand seit dem Anschlag auf das World Trade Center wieder im Rampenlicht der Talkshows und Fernsehsendungen. Selbst der Nahostexperte Gerhard Konzelmann, dessen Werke zeitweilig als eine »einzigartige Mischung aus Plagiat, Stuss und Erfindung« (Zeit) in Verruf gerieten, reist mittlerweile wieder mit einem neuen Buch über den »Djihad und die Wurzeln eines Weltkonflikts« durch die Volkshochschulen.

Wehler sichert seine Abrechnung mit dem »militanten Monotheismus, der seine Herkunft aus der Welt kriegerischer arabischer Nomadenstämme nicht verleugnen kann«, damit ab, dass er einräumt, auch er kenne »hier zwei glänzende türkische Studenten«. Während der Historiker seine Kollegen mahnt, nicht ob des vereinzelten Guten das böse Ganze zu übersehen, mühten sich die Nahost- und Islamwissenschaftler einige hundert Kilometer weiter westlich in Mainz um den guten Kern der heiligen Schriften. Was stört uns al-Qaida, wenn sich die Muslimbrüder um die Armen kümmern, lautete das unausgesprochene Motto des ersten Weltkongresses für Studien zum Vorderen Orient, der in der letzten Woche in Mainz zu Ende ging.

Den kulturalisierenden Interpretationen des Islam, wie Wehler und Konzelmann sie leisten, wurden von den Verteidigern des Islam postmodern beliebige Interpretationen des Koran entgegengestellt. Nichts ist wirklich, alles ist Reaktion - auf Kolonialismus, Modernisierung, Globalisierung oder schlicht die US-Außenpolitik. Dass der US-amerikanische Literaturwissenschaftler Edward Said den Forschungspreis des Weltkongresses erhielt, spiegelt die Begeisterung über seine Veröffentlichungen, die in der deutschen Nahostwissenschaft herrscht.

»Am falschen Ort«, so der Titel von Saids Autobiografie, war vor allem seine Rede. Saids Kritik am kulturalistischen Orientbild der französischen, britischen und US-amerikanischen Nahostwissenschaft, die er erstmalig 1978 in seinem Buch »Orientalism« formulierte, gilt heute wie vor 25 Jahren nur in eingeschränktem Maße für die deutsche Orientalistik. Deutlicher als in anderen Ländern verbindet sich in den Arbeiten der hiesigen Orientforschung die Suche nach einem authentischen Kern des Islams mit romantischen Verklärungen und Affirmationen.

Nicht zufällig konnte die renommierte Islamwissenschaftlerin und Friedenspreisträgerin Annemarie Schimmel auf einer zentralen Veranstaltung der Konferenz zur Einfühlung in den Forschungsgegenstand auffordern, da nur so ein Verstehen möglich sei. Bereits ein Überblick über die Veranstaltungen, die sich im weitesten Sinne mit den radikalen politischen Bewegungen der Region auseinandersetzten, ließ vermuten, dass Kritik noch am ehesten von arabischen Intellektuellen kommen würde.

Während es sich Said bei aller Kritik an der US-Außenpolitik nicht nehmen ließ, den Antiamerikanismus in der arabischen Welt, »der wenig von dem versteht, was die Vereinigten Staaten als Gesellschaft wirklich sind«, als ein zentrales Problem herauszustellen, ging es den anwesenden deutschen Kollegen in erster Linie um »Versachlichung«. Während algerische Liberale den Terror islamistischer wie staatlicher Gruppierungen kritisieren und türkische Intellektuelle die Islamisierung der türkischen Politik beklagen, wundert man sich in deutschen Zeitschriften über »das soziale Netz der Hizbollah«.

Die Apologetik einerseits und die rassistische Denunziation andererseits, die in den Kommentaren und Berichten rund um den 11. September deutlich werden, gehören zusammen. Der rassistische Blick und die romantische Verklärung des Anderen sind zwei Seiten einer Medaille.