Mit dem Neuen Markt ist's vorbei

Generation Cash Burn

Der Neue Markt versprach ein grenzenloses Wachstum. Nun wird er endlich geschlossen. Ein Nachruf

Im Frühjahr 1997 haben wir noch über die Albaner gelacht. Als ihre größte Investmentgesellschaft zahlungsunfähig wurde und die Wahrheit an den Tag kam, dass sie nach dem Prinzip des Pyramidenspiels gewirtschaftet, sich also weder um die Warenproduktion noch um den Handel geschert, sondern die monatlichen Zinsen in der kühnen Höhe von zehn Prozent ganz einfach aus den Einlagen bestritten hatte, wurde in Frankfurt der Neue Markt gegründet.

Die ersten beiden Unternehmen, deren Aktien in diesem Börsensegment notiert wurden, waren die Mobilcom AG, die heute nur noch mit staatlicher Hilfe am Leben erhalten wird, und die Bertrandt AG, über die neulich in der Wirtschaftszeitung Euro am Sonntag zu lesen stand: »Dass von jedem Euro Umsatz nur ein Cent Gewinn hängen bleibt, birgt auch Chancen: Wenn die Marge um ein Prozent vorankommt, verdoppelt sich der Gewinn. Da Finanzvorstand Ralph Jacoby kurzfristig nicht mit einer Konjunkturbelebung rechnet, ist allerdings kaum abzusehen, wann dieser Hebel-Effekt eintritt.« Immerhin zählt die Bertrandt AG zu den wenigen Firmen des Neuen Marktes, die überhaupt irgendwann einmal einen Gewinn verbuchen konnten; die meisten, so scheint es, haben sich vor allem damit beschäftigt, das Geld ihrer Aktionäre verschwinden zu lassen.

Als der Wachstumsmarkt noch wuchs und die Zukunftswerte noch eine Zukunft hatten, wurde die Aktienspekulation zu einem Volkssport. Börsenexperten namens Manfred Krug oder Thomas Gottschalk rieten jeder Hausfrau, das Sparbuch so schnell wie möglich gegen ein Portfolio zu tauschen. Die heißesten Insidertipps standen in Bild, auf den Fluren der Sozialämter telefonierten die venture capitalists mit ihren Brokern, und wer nicht wenigstens ein paar Telekom-Aktien besaß, galt als ein hoffnungsloser Trottel.

Kein Wunder, dass die Kurse stiegen und stiegen. Im März 2000 erreichte der Nemax, der bei 500 Punkten begonnen hatte, seinen Höchststand von 9 600 Punkten, der fiktive Börsenwert aller auf dem Neuen Markt gehandelten Unternehmen betrug damals 110 Milliarden Euro. Wer im November 1997, als EM-TV an die Börse ging, für 10 000 Mark kommende blue chips zu erwerben glaubte, deren einziger benefit aber in Wahrheit nur ein beschleunigter cash burn war, weil sie den break-even nie erreichten, durfte sich wenig später als mop fühlen, als millionaire on paper. Und wenn er seine Aktien nicht abgestoßen hat, als sie noch etwas wert schienen, so weiß er heute mit Gewissheit, dass er immer ein stub gewesen ist, ein stupid bugger.

Denn schon aus André Kostolanys Memoiren hätte er lernen können, dass es zwei Sorten von Aktionären gibt. Der Couponschneider alter Schule sitzt auf verlässlichen Industriewerten, die er nicht verkauft, sondern vererbt, und lebt von der Dividende. Der halbseidene Spekulant hingegen betreibt das Börsengeschäft als Vierzigstundenjob, er kauft und verkauft, jedoch nur dann, wenn die Kurse günstig sind. Die Priester des Neuen Markts versprachen nun aber eine behagliche Spekulation mit phantastischem Gewinn, ein ganzes Volk sollte sich der Kontemplation des Nemax hingeben, um irgendwann, zum Erwerb einer Immobilie oder zur Aufbesserung der Rente, einige Papiere zu veräußern. In diesem Pyramidenspiel sollte es nur Gewinner geben, und es schien zu glücken, solange immer mehr Geld investiert wurde.

Gleichzeitig mit dem neuen Börsensektor entstand ein neuer Arbeitsmarkt, auf dem vermeintliche Unternehmer ihrer selbst sich feilboten. Geregelte Arbeitszeiten, Tarifverträge und Betriebsräte waren ihnen nicht sexy genug, sie wollten mit Stock Options an ihrer eigenen Ausbeutung beteiligt werden. Inzwischen überlassen sie die Verwertung ihrer Arbeitskraft wieder denjenigen, die etwas davon verstehen. Und aus den USA hört die FAZ es läuten, »dass - gerade unter den einst zu zukunftsgewissen jugendlichen Helden der New Economy - die alte Gewerkschaftsidee wieder Fuß fasst«.

Nun steht der Nemax bei 350 Punkten. Und wer ist schuld? Der Redakteur Thomas Schmid aus Frankfurt verdächtigt wie immer den Sozialismus: »Ein naiver Kinderglaube hatte viele derer erfasst, die sich - zu Recht oder zu Unrecht - als Protagonisten der New Economy verstanden. Der raumgreifende Optimismus, den sie zu verbreiten pflegten, war erkennbar ein Kind jenes Optimismus, den sie doch vollständig überwunden zu haben glaubten: des linken Optimismus, dass eine Zukunft ohne Not, Krieg, Gefahr, Elend möglich, ja geschichtsnotwendig war.«

Deshalb ersteigerte der Vorstandsvorsitzende Gerhard Schmid aus Büdelsdorf vor zwei Jahren für zwanzig Milliarden Mark eine UMTS-Lizenz, um heute darüber zu weinen, dass der Finanzminister ihm zu viel abgenommen habe. Und deshalb bildete der Kleinaktionär Erwin Schmid aus Schmölln sich ein, wenn irgendwo Geld zu machen sei, werde man es ausgerechnet ihm erzählen.

Die FAZ hält den Neuen Markt oder seine Pleite neuerdings für »ein Missverständnis junger Zigarrenraucher«, welches schließlich sogar »das segensreiche, evolutionär aber unwahrscheinliche und fragile Gebilde Marktwirtschaft« gefährdete. Denn die Generation Handelsgold habe noch gewusst, dass die Gewinnsucht den allgemeinen Wohlstand und die »gute Gesellschaft« zwar ermöglicht, aber nicht garantiert. »Die Wirtschaftsgesellschaft des Eigennutzes funktioniert nur, wenn sie im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Werte steht, wenn sie von Bürgern getragen wird, die Maß und Werte kennen.«

Viele Angehörige der Generation Cohiba aber, »die heute das Bürgertum verkörpern, sind in Wahrheit Hochstapler im Bürgergewand«. Doch was sollte der eben erst geschäftsfähige Entrepreneur mit seinem Start-Up denn machen? Hatte ihm sein Business Angel Lothar Späth nicht versichert, wenn Henry Ford I. noch lebte, würde er Gummibärchen im Internet verticken? Die gesamte Zukunftsbranche fand im virtuellen Raum statt, und da sollte man sich von der blöden Wirklichkeit die Bilanz verderben lassen?

Nun ist der Spuk vorüber. Der Neue Markt, so kündigte es die Frankfurter Börse vor zwei Wochen an, wird im nächsten Jahr geschlossen. In seinem Geschäftsbericht wird zu vermerken sein, dass nicht nur seine Ideologen, die Anleger, ihre professionellen Berater und die begnadeten Topmanager geradezu albanisch dumm waren, sondern dass auch diejenigen sich getäuscht haben, die vom »Platzen der Spekulationsblase« allerhand soziale Veränderungen erwarteten. Als der Nemax um 95 Prozent abnahm, wurden keine Banken gestürmt und keine Bilanzenfriseure gelyncht, und nur ein einziger Selbstmord musste gemeldet werden. Einen Verlust in Milliardenhöhe erträgt der deutsche Kleinsparer, ohne mit der Wimper zu zucken. Vermutlich blättert er schon wieder in Focus Money und sucht den nächsten todsicheren Anlagetipp, der da lautet: Jetzt kaufen, so billig wie heute war der Schrott noch nie!