Eine göttliche Geschichte

Das Ende der alten Weltordnung bringt auch einen neuen Terrorismus mit sich, der so wahnsinnig ist wie keiner seiner Vorgänger.

Zu den aberwitzigen Argumenten, die in den siebziger Jahren gegen Atomkraftwerke vorgetragen wurden, gehörte, dass sie einen Flugzeugabsturz nicht aushielten. Die vernünftige Antwort darauf lautete, die Wahrscheinlichkeit, zweimal hintereinander einen Millionenbetrag im Lotto zu gewinnen, sei wesentlich höher, als dass so ein Zufall eintrete.

Diese Antwort war vernünftig, weil sie selbst bei potenziellen Attentätern einen Rest Vernunft voraussetzte. Niemand bringt ein Flugzeug in seine Gewalt, um dann damit abzustürzen. Bestenfalls droht man mit der Bereitschaft, zunächst die Passagiere umzubringen und dann, als letzten Akt schlimmster Verzweiflung, vielleicht auch sein eigenes Leben zu geben.

Der deutsche Terrorismus, etwa der RAF, operierte mit dieser Grundannahme der Vernunft. Dass er moralisch motiviert war, dass er moralisch zu verurteilen war und ist und dass er mit den moralischen Empfindungen der Gegenseite rechnete, indem er eine Geiselnahme zur Voraussetzung eines Tauschgeschäftes für die Freilassung erhob, macht den Befund nicht falsch. Terror gehörte zum Katalog der politisch sinnvollen Maßnahmen. Er griff oft symbolisch an und galt als Mittel der militärisch Unterlegenen. Die Terroranschläge sollten den Übergang zur Guerilla schaffen.

Der gute alte Rumpelterrorismus hat ganzen Generationen Begriffe beigebracht, die sie vorher nicht kannten: »Schweinesystem« oder »Arbeitgeberpräsident« oder auch »Volksgefängnis«.

Ein Terrorismus, der in eine politische Strategie eingebettet war oder als verirrter Ausläufer eines politischen Projekts daherkam, erscheint heute als archaisch. Mittlerweile, nach dem 11. September 2001, gehört die Behauptung, es sei unwahrscheinlich, dass ein Flugzeug in ein Atomkraftwerk stürze, in den Bereich des Aberwitzes, und nicht mehr, wie in vernünftigen früheren Zeiten, das Gegenteil.

Nichts ist mittlerweile mehr sicher, nicht einmal, in Washington zu tanken oder in Moskau ein Theater zu besuchen. Vom Pizzaessen in Jerusalem oder dem nächtlichen Tanzen in Bali mal ganz abgesehen. In Gegenden, denen man das noch in den siebziger und achtziger Jahren nie zugetraut hätte, sind Alltagsverrichtungen lebensgefährlich geworden, als habe es zivilisierende Prozesse nie gegeben.

»Nicht um zu überleben, sondern um zu sterben«, sei er nach Moskau gekommen, so wurde der Anführer der tschetschenischen Terroristen, Mowsar Barajew, zitiert. Der russische Staat tat ihm den Gefallen. Den Wunsch, nach nur 25 Lebensjahren zu sterben, hätte sich Barajew auch anders erfüllen können, weniger spektakulär und ohne mehr als 100 andere Menschen mit in den Tod zu reißen.

Die neue Qualität des Terrors ist offensichtlich der selbstbewusst behauptete Irrsinn. Man droht nicht mehr mit der Bereitschaft, sich umzubringen, sondern man tut es einfach - für Gott oder das Vaterland oder gleich für beide, und meist ohne zumindest einen Forderungszettel hinterlegt zu haben.

Die von der Hamas befehligten Selbstmordattentäter in Israel haben es vorgeführt. Wer sein eigenes Leben opfert, hebelt beinahe alle Sicherheitsmaßnahmen aus. Denn sie setzen ja auch eine letzte Annahme von Vernunft voraus, dass nämlich die Verbesserung des menschlichen Lebens nur mit dem Erhalt des eigenen Lebens möglich ist, oder, wenn auch das geopfert werden soll, dann dafür, dass andere Menschen ihr Leben menschenwürdiger führen können.

Die Attentäter des 11. September trieben die Bereitschaft, der politisch motivierten Mordtat jedweden Rest der Vernunft und damit der Berechenbarkeit auszutreiben, vorläufig auf die Spitze.

Der Sniper in Washington erschoss ohne erkennbaren Sinn, und nach dem bisherigen Erkenntnisstand auch lediglich mit einem halluzinierten göttlichen Auftrag, wahllos Menschen, die sich gerade zum Tanken oder Einkaufen auf der Straße aufhielten. Dass er der Todesstrafe kaum entgehen wird, macht das Irrationale seines Tuns noch deutlicher: ein bisschen rumballern, Menschen ins Jenseits befördern und dann selbst hops gehen.

Der französische Philosoph André Glucksmann behauptet, die tschetschenischen Geiselnehmer im Moskauer Theater seien »am apokalyptischen Ende der Geschichte angelangt«. Was in seiner Darstellung verständnisheischend gemeint ist (»Wir Europäer müssten den Tschetschenen jeden Tag auf den Knien danken, dass sie keine Gasanschläge auf die Metro verüben, dass sie keinen Kamikaze-Angriff auf ein Treibstofflager oder ein Atomkraftwerk starten«), ist, gereinigt von seiner bewertenden Komponente, nicht falsch. Auch Glucksmann kommt nicht umhin, das Irrationale deutlich zu machen. Man kann das »apokalyptische Ende der Geschichte« freilich auch Barbarei nennen.

Die neue Qualität des Terrors besteht darin, völlig unkontrolliert in den Alltag zu wirken. Das unterscheidet ihn sogar vom alten Rechtsterrorismus mit seinen Bomben auf dem Münchner Oktoberfest oder dem Hauptbahnhof von Bologna, der möglichst viele Todesopfer wollte und bekam, der aber immerhin mit einer politischen Botschaft - einen autoritären Staat zu schaffen - ein irdisches Ziel verfolgte und dessen Täter sich vor der Explosion aus dem Staub zu machen suchten, damit sie noch von der Realisierung ihres Ziels profitieren könnten.

Das unkontrollierte Hineintragen des Terrors in den Alltag sorgt für barbarische Verhältnisse. Die gesellschaftlichen Verkehrsregeln, die auf der Annahme von Vernunft bei den bürgerlichen Subjekten basieren, werden zerstört. Während man so modernen Tätigkeiten wie dem Theaterbesuch, Tanken oder Busfahren nachgeht, droht plötzlich Todesgefahr, beigebracht von Irren, die für sich eine göttliche Weisung oder einen nationalen Auftrag in Anspruch nehmen.

»Sozialismus oder Barbarei« lautete die von den Begründern des Marxismus formulierte Alternative. Was die Option einer Barbarei unrealistisch erscheinen ließ (und das Erfordernis des Sozialismus als weniger dringend), war die zumindest in Europa und Nordamerika zu beobachtende und zur Teilhabe einladende Vermehrung des Reichtums sowie die staatliche und gesellschaftliche Einbettung der Kapitalakkumulation.

Die beiden großen Kriege des vergangenen Jahrhunderts demonstrierten die Möglichkeit der Barbarei. Aber auch die Weltkriege fanden ein Ende, auch und selbst sie fanden nach gewissen Regeln statt, die nur partiell durchbrochen wurden, was wiederum später geahndet wurde. Und auch in den Weltkriegen formierte sich je eine der Zivilisation verpflichtete Partei. Es war also eine, wenn man so will, noch leidlich geordnete Barbarei.

»Im Prozess der Kapitalisierung wird das Außen zum Innen«, heißt es bei Michael Hardt und Toni Negri, und an anderer Stelle: »Das Kapital musste schließlich den Imperialismus überwinden und die Schranken zwischen Innen und Außen zerstören.« Die Konkurrenz zwischen verschiedenen Staaten wird bei der intensiven Erschließung des Weltmarkts tendenziell obsolet.

Der Terror, nicht mehr der Dialektik von Außen und Innen verpflichtet, nicht mehr von sich behauptend, er sei eingebunden in irgendeine sich selbst antiimperialistisch nennende Sache, ja, überhaupt nicht mehr mit irgendwelchen irdischen Argumenten garniert, sondern als göttliche, meist islamistische Vollstreckung getarnt, tritt als barbarischer Irrsinn im Innern des Landes auf.

Sozialismus oder Barbarei war früher die Alternative, ohne dass man beide Begriffe genauer bestimmen konnte. Heute wissen wir, weil wir in Washington und im Moskauer Musical-Theater ihre Vorboten sehen, die Barbarei ist eine göttliche Ordnung.