Diskussion um den EU-Stabilitätspakt

Schulden sind schön

Der EU-Kommissionspräsident Romano Prodi hat mit seiner Kritik am Stabilitätspakt eine lebhafte Debatte ausgelöst.

So schnell ändern sich die Zeiten. Was die rot-grüne Bundesregierung noch im Frühjahr empört von sich wies, hat der Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) nun kleinlaut zugegeben. In diesem Jahr wird die deutsche Fiskalpolitik das europäische Stabilitätsziel verfehlen. Die Verschuldung wird mehr als drei Prozent des Bruttoinlandprodukts betragen. Ob es nun 3,2 oder 3,7 Prozent sein werden, soll eine Steuerschätzung zeigen, die Mitte November erwartet wird.

Dennoch wird Deutschland wohl um das herumkommen, was es seit der Einführung des Stabilitätspaktes anderen jahrelang und unnachgiebig angedroht hatte: ein Defizitverfahren mitsamt einer Strafe von mehreren Milliarden Euro. Das heißt, ein Verfahren bekommt Deutschland schon, nur sollen die Sanktionen ausbleiben.

Darauf einigten sich der EU-Währungskommissar Pedro Solbes und Hans Eichel in der vergangenen Woche in Berlin. Deutschland werde im kommenden Jahr unter drei Prozent bleiben, erklärte Solbes, weswegen es eine Diskussion um Sanktionen nicht geben werde. Denn Strafen seien erst nach einem längeren Zeitraum vorgesehen. Dafür akzeptierte Eichel den »blauen Brief«, den er noch vor einigen Monaten erbittert bekämpft hatte. Nun dürfte man auch in Lissabon, Rom und Paris aufatmen, wo die Regierungen nach aller Voraussicht ebenfalls die zulässige Neuverschuldungsrate überschreiten dürften.

Ungeachtet des Protests der Europäischen Zentralbank droht die europäische Stabilitätspolitik schon in der ersten Krise zu scheitern. Die gegenwärtige schwache Konjunktur verschafft den Staatshaushalten weniger Einnahmen, während die Ausgaben gleichzeitig weiter steigen. Auch von der Sozialversicherung werden neue Defizite erwartet. So rächen sich die großzügigen Steuersenkungen der jüngeren Vergangenheit, die die verbliebenen haushaltspolitischen Spielräume drastisch reduziert haben.

Mit einer solchen Krise hatte man während der Verhandlungen in Maastricht nicht gerechnet. Damals dachten die EU-Finanzminister an »atmende Budgets«. Während des Aufschwungs sollten die Defizite so vermindert werden, dass die Regierungen in einer Rezession über genügend Spielraum für neue Schulden verfügten, eben bis drei Prozent. Doch seit zwei Jahren stagniert die Wirtschaft, und daran wird sich voraussichtlich auch im nächsten Jahr kaum etwas ändern.

Daher gerät nicht nur der deutsche Finanzminister unter Druck, sondern auch die EU-Kommission. Noch vor drei Jahren lautete die Aufgabe, dass die EU-Mitgliedsstaaten bis zum Jahr 2001 einen ausgeglichenen Haushalt vorweisen sollen. Dann wurde die Frist bis 2004 verlängert, inzwischen ist vom Jahr 2006 die Rede. Vielleicht wird das Ziel auch gar nicht mehr erreicht. Nicht nur »Schulden machen kommt überall in Mode«, mäkelt die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, sondern auch »Vertragsbruch«.

Die Debatte eröffnete vor zwei Wochen der EU-Kommissionspräsident Romano Prodi, der den Stabilitätspakt als »dumm« und »starr« bezeichnete. Obgleich er damit einen Sturm der Entrüstung auslöste, verteidigte er seine Aussage wenige Tage später in einer Rede vor dem Europaparlament in Strasbourg. Er habe nicht den Pakt an sich in Frage stellen wollen, erklärte er, sondern nur seine allzu wortgetreue Auslegung. »Mit Vergnügen möchte ich ihnen den Verdienstorden für intelligente Provokateure überreichen«, erwiderte der grüne Abgeordnete Daniel Cohn-Bendit. »Endlich haben wir eine Debatte. Wir dürfen nicht weiter heucheln.«

Tatsächlich hat Prodi mit seinen Äußerungen die neoliberale Wirtschaftsdoktrin kritisiert. Ist der Haushalt saniert, werden die Märkte den Rest schon richten, lautete bislang das Credo. Damit ist nun offenbar Schluss. Denn angesichts der Finanzierung der Ost-Erweiterung trifft die Konjunkturkrise die EU zu einem besonders ungünstigen Zeitpunkt. Mittlerweile geht es längst nicht mehr um die Inflationsbekämpfung und die Konsolidierung des Haushalts. Vielmehr stehen die EU-Staaten gleichzeitig vor einer Rezession und einer Deflation.

Auch die Bundesregierung muss nun erkennen, dass die bislang verfolgte Sparpolitik nicht fotzusetzen ist. »In einer sehr schwachen Konjunktur können Sie nicht unendliche Sparanstrengungen unternehmen«, erklärte Eichel in der vergangenen Woche, »ohne dass Sie die wirtschaftliche Dynamik völlig abwürgen.«

Um einen neuen Wirtschaftsaufschwung zu fördern, müsste mehr investiert werden. Dabei überfordert derzeit nicht nur die Reform des Arbeitsmarktes die finanziellen Möglichkeiten der Bundesregierung, es fehlen auch die Mittel für eine neue Familien- und Bildungspolitik; ein auch in Frankreich und Italien bestens bekanntes Problem.

In der EU scheint sich daher eine neue Wirtschaftspolitik abzuzeichnen, die das Dilemma lösen muss, einerseits die wirtschaftsliberale Disziplin beizubehalten, es aber andererseits mit den Schulden nicht mehr so genau zu nehmen. Doch dass die Diskussion nötig ist, zeigt sich schon an den wohlwollenden Kommentaren, mit denen die europäische Wirtschaftspresse auf Prodis Äußerungen reagierte.

»Der betriebsblinde Versuch vieler Finanzminister und Regierungschefs, die nötige Diskussion zu unterbinden, dürfte nach Prodis Provokation definitiv gescheitert sein«, bemerkte die Financial Times Deutschland. Auch für den Economist liegen die wichtigsten Herausforderungen nicht in der Haushaltspolitik, sondern in den realwirtschaftlichen Problemen, etwa in der Sanierung des Fiat-Konzerns in Italien oder dem Verkauf der französischen Electricité France.

An den Finanzmärkten haben Händler und Analysten ebenfalls kein Problem mit einer Überschreitung der Stabilitätskriterien. Schließlich rege sich in den USA auch niemand auf, schreibt das Handelsblatt, weil die Regierung das Haushaltsdefizit im abgelaufenen Fiskaljahr um vier Prozent vergrößert habe.

Eine durch die Verletzung des Stabilitätspaktes ausgelöste Kapitalflucht vom Euro in den Dollar wird nicht befürchtet. Das eigentliche Problem bestehe darin, dass für eine neue Wirtschaftspolitik kein Geld mehr vorhanden sei. »Ein großer Teil der Schuld an der schlechten Entwicklung in Europa liegt bei der übermäßig restriktiven Ausrichtung von Geldpolitik und Finanzpolitik«, sagte Michael Hartnett von der Investmentbank Merril Lynch. »Durch den Stabilitätspakt haben die Finanzminister nicht die Möglichkeit, die schwache Konjunktur anzukurbeln.«