Ein Abschiebgefängnis in Marseille

Die letzte Station

In einem maroden Gebäude im Hafen von Marseille warten Einwanderer auf ihre Abschiebung.

Das Abschiebegefängnis Centre Arenc befindet sich direkt am Kai des Handelshafens von Marseille. Links und rechts warten die Fähren auf die Abfahrt nach Korsika. Die landwärts gelegene Stirnseite des Gebäudes ist frisch gestrichen. An den Längsseiten reichte es nur für den zweiten Stock, wo die Räume des Centre liegen. Um so deutlicher erkennt man an dem ansonsten leer stehenden Haus das marode Fundament. Im Erdgeschoss sind die morschen Holztüren vernagelt, alle Fenster sind geborsten, Stacheldraht blockiert den Zugang zu den Balustraden.

Arenc ist eines der 23 französischen Centres de Retention Administrative (CRA), in denen die Behörden Einwanderer zwölf Tage lang festsetzen dürfen, um ihre Abschiebung zu organisieren. Die meisten Gefangenen sind Migranten ohne gültige Aufenthaltspapiere. Aber auch straffällig gewordene legalisierte Einwanderer müssen dort auf ihre Ausweisung warten. Rund 2 000 Migranten wurden im vergangenen Jahr in Arenc festgehalten, rund 60 Prozent wurden abgeschoben.

Eine Besichtigung des Lagers ist nicht erwünscht, es gibt allerdings die Möglichkeit, den Namen eines Abschiebehäftlings in Erfahrung zu bringen und sich in einem Besucherzimmer mit ihm zu unterhalten. Eine rundum vergitterte Treppe mit drei Türen und ebenso vielen Kameras führt zum Eingang des Zentrums. »Das Besuchszimmer ist besser als die anderen Räume hier«, sagt Mourad Bensaid * über den fensterlosen, hellbraun gekachelten Quader mit Plastikblumen und verblassten Bildern. Wie drei Viertel der Insassen des Centre Arenc stammt Bensaid aus Nordafrika. Der Algerier ist 19 Jahre alt und kam mit 13 illegal nach Frankreich. Ohne Papiere lebte er bei französischen Freunden in Marseille.

Vor zwei Jahren wurde Bensaid wegen Diebstahls zu 23 Monaten Gefängnis verurteilt. Nachdem er seine Strafe verbüßt hatte, brachten ihn Polizisten ins Centre. Legal oder illegal in Frankreich lebende Ausländer werden, nachdem sie ihre Strafe abgesessen haben, des Landes verwiesen und erhalten ein befristetes oder sogar ein unbefristetes Einreiseverbot.

»In Algerien kenne ich nichts und niemanden«, erklärt Bensaid. »Ich liebe Frankreich, mein Leben und meine Freunde sind hier.« Voller Zuversicht erzählt er, dass er seine französische Freundin heiraten, seine Papiere in Ordnung bringen und ein beschauliches Leben in Frankreich führen will. Deshalb gibt er sich in Arenc als Marokkaner aus. Er hofft, dass er nach der gesetzlichen Frist von zwölf Tagen entlassen wird, weil ihn das marokkanische Konsulat nicht anerkennt.

»Seine einzige Chance ist, die Freundin in seiner Heimat zu heiraten und dann mit ihr als Ehepartner einer Französin zurückzukommen«, meint dagegen Jackie Cruz von Cimade in Marseille. Diese aus der Résistance hervorgegangene humanitäre Organisation ist seit 1984 als einzige in Arenc und anderen derartigen Zentren zugelassen und unterstützt dort die Migranten bei der Wahrnehmung ihrer Rechte.

Der Grund für eine Aussetzung der Abschiebung kann ein Formfehler der Behörde, das Sorgerecht für ein französisches Kind oder der Nachweis von über zehn Jahren (illegalen) Aufenthalt in Frankreich sein. Den Richtern und den Verwaltungsangestellten bleibt jedoch ein großer Ermessensspielraum. Häufig lehnen sie Beweisstücke ab oder ignorieren eine neue Familiensituation. »Die geschützten Kategorien werden immer weniger respektiert«, fasst Cruz die restriktive Praxis zusammen.

In ihren Jahresberichten wies Cimade auch wiederholt auf die skandalösen Lebensbedingungen im Durchgangslager hin. Schimmel überzieht trotz frischer Farbschichten die Wände. Häufig beschweren sich die Insassen über die verdreckten sanitären Anlagen. »Es kann passieren, dass ich Migranten zum Gespräch empfange und Schaben auf ihren Jacken umherirren«, berichtet Cruz.

Die Polizisten behandeln die Migranten in Arenc inzwischen überwiegend fair. Wer den Ablauf stört, kommt allerdings in eine Isolationszelle und wird dort für mehrere Stunden nackt eingeschlossen. Angeblich, um Selbstmorden vorzubeugen. »Für mich ist das ein offensichtlicher Fall von Misshandlung und Folter«, schimpft Cruz. Nach Protesten von Cimade sollen die Häftlinge künftig ihre Kleidung behalten dürfen. Dafür soll eine Kamera den Störer beobachten. Die Behörden sind inzwischen sehr daran interessiert, dass alle Maßnahmen rechtlich abgesichert sind.

Das war nicht immer so. Das Abschiebegefängnis in Marseille gibt es seit 1964. Elf Jahre lang war seine Existenz der französischen Öffentlichkeit nicht bekannt. 1975 ergaben Nachforschungen des Anwalts Sixte Ugolini, dass im Hafen Einwanderer heimlich und ohne gesetzliche Grundlage festgehalten werden. Er war informiert worden, nachdem der Marokkaner Mohamed Cherif von einem Termin bei der Marseiller Ausländerpolizei nicht zurückgekommen war.

Kurze Zeit später wurde bekannt, dass der Algerier Said Benia nach seiner Verurteilung zu einer Bewährungsstrafe nicht freigelassen, sondern von der Polizei in ein Gebäude am Hafen gebracht worden war. Unter dem Druck der Medien musste der damalige Innenminister Michel Poniatowski die Existenz des »Durchgangszentrums für illegale oder straffällig gewordene Einwanderer« zugeben. Trotz des Skandals arbeitete das Centre ohne rechtliche Basis weiter. Erst 1981, nach der Wahl von François Mitterrand, wurde die gängige Praxis legalisiert.

Benia ist seit seiner zufälligen Beteiligung an der Entdeckung des illegalen Gefängnisses acht Mal von Arenc nach Algerien abgeschoben worden. Jedes Mal kehrte er wieder in seine Geburtsstadt Marseille zurück. Hier lebt seine Familie, deren Mitglieder französische Staatsbürger sind. Bis heute konnte Benia die französische Nationalität nicht wieder erlangen, die er von 1956 bis 1962 besaß. Seine instabile Lebenslage ist dafür verantwortlich, dass er sich bereits mehrfach in stationäre psychiatrische Behandlung begeben musste.

Bis zum nächsten Jahr will der Staat sämtliche CRA an die Normen des Einwanderungsgesetzes anpassen. Für Arenc kann das nur den Abriss bedeuten. In ihrem neuesten Bericht fordert Cimade die Schließung von zehn weiteren Zentren, in denen der Zustand des Gebäudes und die Lebensbedingungen kaum zulässig sind. Für Hervé Gouyer, der seit einem Jahr nicht mehr in der Organisation arbeitet, gehen diese Forderungen allerdings am Kern des Problems vorbei: »Was ändert sich für die Illegalen, wenn sie in einem Fünf-Sterne-Hotel auf ihre Abschiebung warten?«

* Der Name wurde von der Redaktion geändert.