Antisemitischer Zwischenfall

Zu laut zum Hören

Als 1938 in Spandau die »Jüdenstraße« in »Kinkelstraße« umbenannt wurde, »folgten die Spandauer besonders schnell dem Willen ihres Führers« (Berliner Zeitung). Und als die Straße neulich wieder ihren ursprünglichen Namen bekam, regte sich unter den Bürgern der Unmut darüber, dass der Beschluss Adolf Hitlers rückgängig gemacht werden sollte. Während der zur Umbenennungszeremonie als Gastredner vorgesehene Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Alexander Brenner, zu sprechen begann, krakeelten mehrere Leute: »Juden raus! Ihr Juden seid an allem schuld!« Die Krawallmacher seien »der bürgerlichen Mittelschicht zuzuordnen« und in »Pogromstimmung« gewesen, sagte der Spandauer Bezirkspolitiker Karl-Heinz Bannasch (FDP), der Brenner eingeladen hatte.

Eine logische Erklärung, wie es dazu kommen konnte, lieferte im Nachhinein der Spandauer Bundestagsabgeordnete Swen Schulz (SPD): »Mit der Einladung an Herrn Brenner wurde die Sache erst richtig aufgebauscht.« Soll wohl heißen: Hätte man den Juden nicht nach Spandau gelassen, wären auch die Judenhasser brav zuhause geblieben und es wäre Ruhe im Karton gewesen.

Die taz jedoch, die sich erwartungsgemäß der brutalstmöglichen Aufklärung des Geschehens verschrieben hat, bot eine bei weitem interessantere Theorie. Zu dem vermeintlichen »antisemitischen Vorfall« stellte sie die alles entscheidende Frage: »Hat es ihn überhaupt gegeben?« Denn bei ihrer schonungslosen Recherche stellte sich heraus, dass Brenner sich möglicherweise alles nur eingebildet haben könnte. Selbst einer, der sich in der Menge befand, »äußerte Zweifel, ob es zu den antisemitischen Rufen überhaupt gekommen sei« und »betonte (...), dass er die Rufe nicht gehört habe. (...) Er habe (...) rund 15 Anwesende gefragt, ob sie antisemitische Rufe gehört hätten. Alle hätten dies verneint. Auf seine Nachfrage bei der Polizei hieß es, auch die anwesenden Polizisten hätten keine antisemitischen Pöbeleien vernommen.« Kurzum: Weder die Täter selbst noch unsere stets zuverlässigen Polizisten können sich daran erinnern, irgendetwas gesehen oder gehört zu haben.

Die Schlussfolgerung muss also lauten: Wenn Leute, die keine Antisemiten sind, die eigenen antisemitischen Äußerungen, die gar keine waren, gar nicht gemacht haben und demzufolge auch nicht gehört haben, dann kann von Antisemitismus nicht die Rede sein. Quod erat demonstrandum.

Noch wahrscheinlicher ist jedoch, dass diejenigen, die »Juden raus!« gebrüllt haben und erstaunlicherweise nicht wie Antisemiten, sondern wie »ganz normale Menschen« (B.Z.) ausgesehen haben sollen, ihr eigenes Geschrei deshalb nicht vernehmen konnten, weil das von ihnen verursachte Grölen zu laut war, um sich selbst noch dabei verstehen zu können. Früher, zu Zeiten des Führers, so munkelt man, soll dergleichen auch bisweilen vorgekommen sein. Und auch daran kann sich heute kaum jemand erinnern.