Sie sind überall
An normalen Tagen ist die Sokolska eine der belebtesten Straßen der Stadt. Wer Prag schnell durchqueren will, benutzt diese Magistrale. Doch in diesen Tagen ist nur wenig normal, am wenigsten der Verkehr. Gelegentlich heulen Sirenen auf. Dann fegt eine Polizeieskorte, die eine Kolonne von schwarzen Limousinen begleitet, die Schnellstraße entlang. Die Fahrt endet im Prager Congress Centrum, einer architektonischen Hinterlassenschaft des Realsozialismus, die nicht nur aus großer Entfernung wie eine moderne Festung wirkt.
Auch geografisch dürfte das Gebäude allen Sicherheitsanforderungen genügen. Um dorthin zu gelangen, muss man eine mehrere hundert Meter lange Brücke überqueren. Die benachbarten Straßenzüge sind gesperrt, um das gesamte Gebäude haben die schwarz uniformierten Einsatzkräfte eine Kette gebildet, auf den Dächern der Häuser sind Scharfschützen postiert. Noch weiter oben kreisen F-16 Kampfjets, um auch am Himmel jede unkontrollierte Annäherung zu verhindern.
Als der tschechische Präsident Vaclav Havel am Mittwoch der vergangenen Woche die Nato-Tagung auf der Prager Burg eröffnet, wird das komplette Viertel abgesperrt, ebenso wie die unmittelbare Umgebung der Hotels, in denen die Gipfelteilnehmer untergebracht sind. Die Staats- und Regierungschefs sowie die Außen- und Verteidigungsminister aus 26 Staaten werden mitsamt ihres Gefolges mehrmals am Tag durch die Innenstadt geschleust. 12 000 Polizisten und 2 800 Soldaten sind zum Schutz des Treffens aufgeboten.
Stoisch betrachten die Prager, wie die Kolonnen im Minutentakt vorbeirauschen. Kurz vor dem Ende der Tagung am vergangenen Freitag wird der Nato-Generalsekretär George Robertson sich für die Gastfreundschaft bedanken. Ein Teil der Bevölkerung sei ja bereits vor der Konferenz geflüchtet, bemerkt er lakonisch. Tatsächlich haben sich die Bürger der Stadt auf das Ereignis wie auf eine Naturkatastrophe vorbereitet. Im Sommer die Flut, im Herbst der Gipfel. Jeder fünfte Einwohner verließ die Stadt während dieser Tage, die Schüler und Studenten bekamen frei. Wer keinen Kurzurlaub in der Datscha einschieben konnte, ging nicht mehr aus dem Haus. Selbst die Touristen sind weggeblieben. Ein großer Teil der Innenstadt wirkt wie ausgestorben. Nur im Hintergrund ist ständig irgendwo eine Polizeisirene zu hören.
Die Neuen
Von Frieden, Freiheit und Sicherheit ist indes im Inneren der Festung viel die Rede. Die Debatte um die neuen Aufgaben der Allianz hat sogar den eigentlichen Anlass des Treffens, die Aufnahme von sieben neuen Mitgliedern, überschattet. Das »historische Ereignis«, die größte Erweiterung seit der Gründung der Nato vor über 50 Jahren, geht merkwürdig unspektakulär über die Bühne. Neben Rumänien und Bulgarien werden Estland, Lettland und Litauen sowie Slowenien und die Slowakei aufgenommen. Dem Wunsch Kroatiens, Mazedoniens und Albaniens nach einer Aufnahme wird nicht entsprochen.
»Das ist ein phantastisches Gefühl«, jubelt der slowakische Außenminister Eduard Kukan, die bulgarische Regierung spricht vom »Ende der künstlichen Teilung Europas«. Vermutlich ist die Nato nirgendwo so beliebt wie in den meisten der neuen Mitgliedsländer. In fast allen Staaten galt der Beitritt als das wichtigste außenpolitische Ziel des letzten Jahrzehnts. In Rumänien befürworten Umfragen zufolge 85 Prozent der Bevölkerung den Beitritt, in Bulgarien und Lettland sind es immerhin noch gut zwei Drittel. Während in den baltischen Republiken die Nato als Schutz vor potenziellen russischen Machtambitionen gesehen wird, gibt es in den südosteuropäischen Ländern auch noch andere Gründe.
Bulgarien ist nach wie vor weit davon entfernt, den westeuropäischen Lebensstandard zu erreichen. Rund 60 Euro beträgt der durchschnittliche Monatslohn, 70 Prozent der Bevölkerung leben am Rande des Existenzminimums, westliche Investoren meiden das Land. Deswegen bemühte sich jede bulgarische Regierung der vergangenen Jahre, so schnell wie möglich dem Bündnis beizutreten. Die Nato verspricht dauernde Stabilität und Sicherheit, ohne die keine Investitionen zu haben sind.
Die Allianz
Kaum ein Beitrag auf der Tagung kommt ohne einen Hinweis auf den 11. September aus, der die gesamte Konzeption des Bündnisses verändert hat. Ein halbes Jahrhundert lang basierte die militärische Strategie auf starken Panzerverbänden und einer atomaren Streitmacht. Als Einsatzgebiet galt das Territorium der Mitgliedsstaaten. Erstmals wurden während des Kosovo-Krieges Ziele und Einsatzgebiete neu definiert, spätestens auf dem Prager Gipfel wird die alte Konzeption endgültig beerdigt.
Die künftigen potenziellen Kriegsschauplätze liegen außerhalb Europas, die neuen Gegner sind weit entfernt, und statt zu warten, bis sie die Grenzen überschreiten, will man sie präventiv erledigen. »Weil viele Bedrohungen von außerhalb Europas kommen, müssen die Nato-Streitkräfte für Operationen außerhalb Europas organisiert werden«, erklärt US-Präsident George W. Bush am zweiten Tag des Gipfels.
Um gegen Gruppen wie al-Qaida vorzugehen, braucht die Nato keine großen Territorialarmeen, sondern kleine bewegliche High-Tech-Einheiten, die in wenigen Tagen in jeder Region der Welt kämpfen können. Für diesen Zweck wird nun eine 21 000 Soldaten umfassende Eingreiftruppe geschaffen, die so genannte Nato Response Force, die bereits im Jahr 2006 einsatzbereit sein soll.
Auch die neuen Mitglieder haben dazu etwas beizutragen. Zwar entsprechen ihre Verteidigungsausgaben zusammen nicht einmal einem Prozent des US-Militärbudgets, doch neben ihrer geostrategischen Bedeutung haben sie einen weiteren Vorteil. Ihre spezialisierten Fähigkeiten passen gut zu den künftigen Aufgaben der Nato. Die Tschechische Republik verweist stolz auf ihre ABC-Einheit, die angeblich eine der besten der Welt ist. Rumänien bietet eine Eliteeinheit von Gebirgsjägern, ein rumänisches Kommando beteiligt sich bereits am Einsatz in Afghanistan. Und fast alle neuen Mitglieder haben ihre Unterstützung eines Kriegs gegen den Irak schon zugesichert.
Die neue Strategie, deren Grundzüge im April des Jahres 1999 auf dem Gipfel in Washington festgelegt wurden, macht aus der Nato ein anderes Bündnis. Transformation ist die am häufigsten benutzte Vokabel des Treffens in Prag. Es ist eine Untertreibung, besser wäre es zu sagen, dass die Allianz in Prag neu gegründet wurde.
Die Europäer
Alle Entscheidungen gehen reibungslos über die Bühne. Nur bei der Irak-Resolution verwahren sich der französische Staatspräsident Jacques Chirac und der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder gegen eine Formulierung, in der von einem Militäreinsatz gesprochen wird. In ihrem Beschluss unterstützen die Nato-Mitgliedsstaaten die UN-Waffeninspektionen und drohen Saddam Hussein mit ernsthaften Konsequenzen, falls diese behindert werden sollten. Mit der Erklärung können alle leben, auch wenn Bush später sagen wird, ohne Deutschland namentlich zu nennen, dass er nicht verstehe, wieso freie Länder nicht für die Freiheit kämpfen wollen.
Auch die Gründung der Response Forces wird ohne großen Widerspruch genehmigt, obwohl sich die Begeisterung der Europäer, die schließlich selbst seit einiger Zeit eine eigene schnelle Eingreiftruppe schaffen wollen, vor dem Gipfel sehr in Grenzen hielt. Von einer »Fremdenlegion für das Pentagon« (New York Times) ist zwar hinter vorgehaltener Hand die Rede, doch eine offene Ablehnung können sich die Europäer einfach noch nicht leisten. Weder verfügen sie bislang über eine gemeinsame Verteidigungspolitik, noch über die notwendigen militärischen Kapazitäten, um außerhalb Europas wirkungsvoll auftreten zu können. Der US-Verteidigungshaushalt für das kommende Jahr beläuft sich auf rund 400 Milliarden Dollar, alle restlichen Nato-Staaten zusammen geben nicht einmal die Hälfte aus. Auf etwa zehn Jahre wird der technologische Abstand zwischen der US-Army und den europäischen Streitkräften geschätzt. Während die USA beispielsweise über rund 250 Großraumflugzeuge verfügen, sind es in Europa nur elf. Die Bundesregierung erwägt, Flugzeuge für Truppentransporte zu mieten, bis die neuen Maschinen des Typs Airbus A 400 M kommen.
Solange sie nicht anders können, machen Chirac und Schröder gute Miene zum bösen Spiel. Alles weitere wird sich zeigen, wenn es um die Detailfragen der neuen Truppe geht. Der Außenminister Joseph Fischer hat zwar seine prinzipielle Unterstützung zugesichert, aber sogleich angemerkt, dass jede Entsendung eines deutschen Kontingents der Zustimmung des Bundestages bedürfe. Zudem muss der Nato-Rat einstimmig über einen Einsatz der neuen Interventionstruppe entscheiden. Da kaum abzusehen ist, wann, wo und aus welchem Grund die Nato künftig tätig wird, fällt es schwer zu glauben, dass im Rat allzu lange Eintracht herrschen wird.
Den größten Erfolg hat Bush aber auf diplomatischem Gebiet erreicht. Jedem Land sei es freigestellt, auf welche Art es seinen Beitrag leiste, und sei er, wie im Fall der neuen Mitglieder, auch nur ein symbolischer. Viel wichtiger ist jedoch, dass Bush zumindest in der Irakfrage die politische Unterstützung der meisten westlichen Staaten sicher ist.
Selbst Russland, das lange Zeit die Erweiterung der Nato äußerst skeptisch betrachtete, gibt sich gelassen. Was in Prag vor sich gehe, sei »nicht unsere Angelegenheit«, kommentierte der russische Verteidigungsminister Sergej Iwanow das Treffen des ehemaligen Klassenfeindes an der Moldau. Und in St. Petersburg, wo sich Bush direkt nach dem Gipfel mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin traf, riefen beide in einer gemeinsamen Erklärung den Irak dazu auf, die UN-Resolution zur Abrüstung bedingungslos zu befolgen. Andernfalls drohten »ernsthafte Konsequenzen«. Isoliert ist jetzt ein anderer, Gerhard Schröder.
Kaum jemand ist hingegen in der Nato derzeit beliebter als Vaclav Havel. Er sei stolz darauf, einen solchen Mann zum Freund zu haben, sagte Bush bei seiner Begrüßung. In den Zeiten des Kalten Krieges saß Havel wegen seiner Beteiligung an der Bürgerrechtsbewegung Charta 77 fünf Jahre lang im Gefängnis, nach dem Ende des Realsozialismus wurde er Präsident. Als er vor elf Jahren in Prag die Auflösung des Warschauer Vertrages verkündete, sprach er sich auch für das Ende der Nato aus. Ohne seinen Gegenpart habe auch die Allianz keinen Sinn, meinte er damals. Heute ist Havel einer der eifrigsten Verfechter des Bündnisses. In seiner Ansprache zum Beginn des Gipfels erinnerte er an das Münchner Abkommen von 1938, das den Untergang der Tschechischen Republik besiegelt habe. So etwas dürfe sich nie wieder ereignen, das Böse müsse schon im Keim vernichtet werden.
Tschechien hat als eines der wenigen Länder die Irakpolitik der USA von Anfang an unterstützt. Allerdings müsse man sehr genau abwägen, erklärte Havel weiter, ob es sich »wirklich um Hilfe für Menschen gegen ein verbrecherisches Regime und den Schutz der Menschheit vor dessen Waffen handelt, oder ob es nicht zufällig um eine Version der Bruderhilfe geht, natürlich um eine raffiniertere als die sowjetische von 1968«. In Tschechien befürworten im Moment nur 48 Prozent der Bevölkerung die Allianz.
Der schwarze Block
Alle haben mit ihm gerechnet und selbstverständlich ist er da. An den Zufahrtsstraßen zum Congress Centrum ist er ebenso präsent wie auf allen wichtigen Plätzen der Stadt. Die Anti-Aufruhreinheiten der tschechischen Polizei tragen schwarze Gesichtsmasken und Uniformen und sind auf alles vorbereitet. Doch der vermeintliche Feind lässt auf sich warten.
Auf dem Platz Namesti Miru nahe der Altstadt sammeln sich die Gegner der Nato. Es sind deutlich weniger als erwartet, vielleicht einige Hundert. An der Spitze des Zuges laufen mehrere Dutzend mit gelben Schürzen gekennzeichnete Journalisten, dann kommen der Schwarze Block der Polizei und anschließend die Anarchisten. Viele von ihnen sind aus Belgrad und Riga, aus Polen und aus Slowenien angereist, um gegen den Gipfel zu demonstrieren.
Andere sind gar nicht so weit gekommen. Bereits Mitte September führte die tschechische Polizei verschärfte Grenzkontrollen durch, allein in den letzten Tagen vor dem Gipfel wurden nach Angaben der Fremdenpolizei 365 »verdächtige Personen« ab-, und mehrere hundert »unerwünschte Personen« ausgewiesen. Die kommunistischen Gruppen hielten bereits am Tag vor dem Gipfel eine Kundgebung ab, an der ebenfalls nur wenige hundert Personen teilnahmen. Schon nach wenigen Kilometern ist erstmal wieder Schluss. Die Brücke zum Congress Centrum wird von Schützenpanzern und Einsatzhundertschaften versperrt. Die Demo wählt einen anderen Weg und geht die Straße hinab ins Tal.
Nach und nach weicht die Anspannung, eine Konfrontation ist nicht in Sicht. Dafür werden die Sprechchöre lauter. Während oben im Congress Centrum unermüdlich auf die Gefahren des weltweiten Terrorismus hingewiesen wird, sieht man unten im Tal die Lage anders. Hier gilt die Nato als gefährliche Terrorbande und Bush als ein Verrückter. Der Gipfel habe nur den Zweck, die Unterwerfung der Welt unter das neoliberale Diktat militärisch abzusichern.
Die Demonstration ist mittlerweile auf etwa 2 000 Personen angewachsen. Auf der anderen Talseite angekommen, macht sie wieder kehrt. Rund 100 Meter oberhalb leuchtet das Centrum wie ein Raumschiff. Als sich der Zug gerade wieder in Richtung Altstadt bewegt, werden auf der Brücke plötzlich die Absperrgitter zur Seite geschoben. Ein Dutzend Polizeifahrzeuge prescht vor, es folgt eine große schwarze Limousine mit dem Banner des US-Präsidenten, danach kommt die Armada der Begleitfahrzeuge. Ein paar Minuten später ist wieder Ruhe auf der Brücke eingekehrt. Auch das Böse muss mal Feierabend machen.
Kurz vor Schluss spricht Robertson noch einmal zu den Journalisten. Rund 3 000 arbeiten während des Gipfels im Foyer des Centrums. Der Generalsekretär zieht eine positive Bilanz, lobt die gute Atmosphäre und bedankt sich schließlich bei den Sicherheitsbeamten, ohne die ein solches Treffen leider gar nicht mehr möglich wäre. Kaum ist das Lob ausgesprochen, kommt es doch noch zum Eklat.
Zwei junge, gut gekleidete Männer springen plötzlich auf, werfen mit roten Tennisbällen nach dem Nato-Sprecher und skandieren: »Robertson, du hast Blut an deinen Händen.« Die Nato sei schlimmer als die Gestapo. Bevor sie abgeführt werden, zeigen sie noch ein Emblem, eine rote Armbinde mit Hammer und Sichel in einem weißen Kreis, das Symbol der russischen Nationalbolschewisten. Es ist der einzige Zwischenfall, den die Rechtsextremisten in Prag provozieren können. Eine zur gleichen Zeit geplante Kundgebung tschechischer Neonazis auf dem Karlsplatz geht in einem immensen Polizeiaufgebot unter. Immerhin, am Ende hat es doch noch einem guten Zweck gedient.