Soziale Proteste in Aachen

Mehr als Punkrock

Die Schließung des Autonomen Zentrums und eine Hausbesetzung haben die Stadt Aachen in Aufruhr gebracht.

Es sind Bilder wie aus einem schlechten Film: Die Strahlen der Morgensonne im Rücken, stehen die SEK-Männer auf den Dachbalken, schwungvoll wie Ninja Turtles springen sie auf den Dachboden des Hauses in der Goethestraße. Die herbeieilenden BesetzerInnen sind perplex, sie können nur den Befehlen der Spezialeinheit Folge leisten: »Stehen bleiben! Auf den Boden! Hände über den Kopf!«

Der Film spielt in Aachen, und alles fing damit an, dass Mitte Oktober das Autonome Zentrum (AZ) dicht gemacht wurde. Von heute auf morgen, wegen einer fehlenden Baugenehmigung und baulichen Mängeln, die der Stadtverwaltung seit langem bekannt waren. Doch das vor allem als Konzertraum genutzte AZ war ihr ein Dorn im Auge. Deshalb nahm das nach einer Brandstiftung in der nicht genehmigten Alternativdisco »Black & White« in die Kritik geratene Bauordnungsamt den halb legalen Status des vor zehn Jahren bereitgestellten Luftschutzbunkers zum Vorwand, um das AZ zu schließen.

500 BesucherInnen demonstrierten gegen die Schließung und auch dagegen, künftig in kommerziellen Kneipen viel Geld fürs Bier bezahlen und dabei schlechte Musik hören zu müssen. Doch die Forderungen änderten sich schnell, gingen weit über den unbehinderten Konsum von billigem Bier und Punkrock hinaus.

Neben der Wiedereröffnung des AZ werden seither auf kleineren Demos zweimal pro Woche weitere Veranstaltungsräume verlangt. Außerdem protestieren die AachenerInnen gegen die Einsparungen bei der Förderung sozialer Einrichtungen wie der Aidshilfe, der Krebs- und Drogenhilfe, beim Notruf für vergewaltigte Frauen und Mädchen sowie bei der Flüchtlingsarbeit. »In Aachen ist eine ganze soziale Kultur bedroht«, sagt Frank Portegys, der Geschäftsführer der Aidshilfe. 600 000 Euro sollen an den Vereinszuschüssen, insbesondere im Sozialbereich, eingespart werden. Das bedeutet für Institutionen wie die Aidshilfe Kürzungen um 20 Prozent. Dem Flüchtlingscafé Zuflucht wurde die Hälfte seiner Mittel gestrichen.

Die Lokalpresse begleitete die Proteste von Anfang an durchweg wohlwollend. Auch die Stadtratsfraktionen der SPD und der Grünen bekundeten ihre Solidarität. Das AZ gehöre genauso zu Aachen wie der Weihnachtsmarkt, hieß es. Die Opposition rügte die schwarz-gelbe Ratsmehrheit wegen ihrer Unfähigkeit, trotz allgemeiner kommunaler Finanznöte einen langfristigen, gerechteren Haushaltsplan aufzustellen.

Die ehemaligen BesucherInnen des AZ wollten allerdings nicht auf einen Kurswechsel in der Lokalpolitik warten. Ein seit längerem leer stehendes Gebäude, der ehemalige Sitz des AStA der Fachhochschule (FH) wurde während einer Halloweenparty vor dem geschlossenen AZ besetzt, die Polizei mit eimerweise heruntergegossenem Wasser in die Flucht geschlagen und der Einzug gefeiert. An den Wänden des Hauses Goethestraße 3 prangen Aufkleber des MSB-Spartakus neben Plakaten der Aachener autonomen Szene aus den Achtzigern, sogar das SDS-Plakat »Alle reden vom Wetter« kam zum Vorschein.

Nach dem Motto: »Für schöner. Für anders« stellten die BesetzerInnen ein Veranstaltungsprogramm für das neue Kultur- und Jugendzentrum zusammen. Viele Angebote entstanden auf den 300 Quadratmetern: ein Umsonstladen, die tägliche Volxküche, eine Fahrradwerkstatt, ein Frauenraum und eine Hausaufgabenhilfe. Den Abschluss jeden Tages bildete eine Vorlesestunde.

Der Asta der FH war Monate zuvor in eine asbestverseuchte Baracke verlagert worden. Das Rektorat hatte den bevorstehenden Verkauf der Liegenschaft durch das Land Nordrhein-Westfalen angekündigt, plante aber Gerüchten zufolge, sich selbst dort niederzulassen. Der Asta fühlte sich von der Uni-Leitung »hintergangen und betrogen«, war aber solidarisch mit den BesetzerInnen: »Natürlich werden wir die Hausbesetzung dulden und uns nach erfolgtem Wiedereinzug in die Goethestraße 3 mit den derzeitigen Nutzern arrangieren.«

Gemeinsam einigte man sich auf ein Nutzungskonzept, das neben dem Ausbau der bestehenden Angebote auch die Bereitstellung von Wohnraum in den seit Jahren leer stehenden oberen Etagen vorsah. Denn die Wohnungsnot wird in Aachen immer deutlicher zum Problem. Vor allem Studierende aus Ländern außerhalb der EU finden auf dem freien Wohnungsmarkt kaum noch eine erschwingliche Unterkunft.

Zu einer Realisierung des Nutzungskonzepts sollte es allerdings nicht mehr kommen. Am 20. November wurde die »Goetheburg« von 850 Polizeibeamten aus ganz Nordrhein-Westfalen geräumt. Obwohl die BesetzerInnen versprochen hatten, im Falle einer Räumung das Gebäude ohne Widerstand zu verlassen, wurden die 19 Menschen, die sich gerade im Haus befanden, von den durch das Dachfenster eindringenden SEK-Einheiten überwältigt.

In Aachen wird derweil die Unverhältnismäßigkeit des Polizeieinsatzes heftig diskutiert. Auch mehren sich die Anzeichen dafür, dass er rechtswidrig war. Ein gerichtlicher Räumungstitel galt nur für zwölf Personen, die Einzige, die darin mit Namen genannt wurde, war zur Zeit der Räumung gar nicht im Gebäude.

Polizeipräsident Heinrich Bönninghaus gibt sich zwar selbstkritisch, doch auf Nachfragen im Präsidium bekommt man keine konkrete Antwort: »Weil wir in die Kritik geraten sind, werden wir dazu keine näheren Angaben machen.«

Nach der Schließung des Autonomen Zentrums und der Räumung des Hauses in der Goethestraße, drei Wochen nach seiner Besetzung, ist das Aktionsfeld der alternativen Jugendszene der Stadt wieder stark eingeschränkt. Die BesetzerInnen - ein bunt gemischter Haufen von SchülerInnen, Studis, Arbeitslosen, Lehrlingen und ein paar Altautonomen - kannten sich vorher kaum. Die wenigsten kommen aus politischen Zusammenhängen. Doch alle widersetzen sich der Kommunalpolitik und verlangen Räume für unkommerzielle Veranstaltungen. Wer in Aachen Initiativen starten, Seminare oder Lesungen veranstalten will, muss sich schon mit einer studentischen Gruppe an einer der Hochschulen gut stellen, denn andere Räume sind praktisch nicht vorhanden.

Der Oberbürgermeister der Stadt, Jürgen Linden, sagte bisher nur, dass in dieser Sache noch niemand auf ihn zugekommen sei. Er unterschlug jedoch, dass ihm die Anliegen der Betroffenen in einer Bürgerfragestunde vorgestellt wurden. Das neu gegründete »Aktionsbündnis gegen den sozialen Kahlschlag in Aachen« fordert, die Förderung sozialer Einrichtungen zur Pflichtaufgabe zu machen - bisher gibt es nur freiwillige Zuschüsse -, die Mittel im Jahr 2003 nicht noch weiter zu kürzen und das AZ wieder zu eröffnen.

Doch die Stadt hat Wichtigeres zu tun. Sie betreibt zum Beispiel eine Kampagne gegen Graffitisprayer mit dem Slogan: »Räumt auf, wenn Ihr Aachener seid!«