Always Look at the Left ...

Krise, Bewegungsflaute, Nazis und eine hoffnungslos zerstrittene Linke. Kein Grund zum Verzweifeln, denn die Regierung ist so links wie nie zuvor. Die Bilanz des Jahres 2002

Gefühlte Krise

Gibt es die Krise wirklich, wie kommt das, was soll das, und wie war das Jahr eigentlich so? Schwer zu sagen. Wenn man gerade selbst arg in der Schuldenkrise steckt und gleichzeitig ständig von der Krise hört, neigt man ja dazu, das eine mit dem anderen zu begründen; auf der Straße nur noch Szenen zu sehen, die auf Unglück und Niedergang hindeuten, und das individuelle Leid in der Umgebung, das in diesem Jahr tatsächlich überhand nahm, irgendwie zu verallgemeinern; dem individuellen Unglück und den individuellen Bewältigungsstrategien damit aber auch irgendwie die Würde zu nehmen; schließlich hat man sich das als freier Unternehmer seiner selbst ja auch ausgesucht, mit allen Vor- und Nachteilen, und das Ausgesuchte ist natürlich okay.

Dann geht man wieder durch die Straßen Kreuzbergs und denkt, man habe sich das neulich alles nur eingebildet, die Menschen in der U-Bahn schauen doch eigentlich gar nicht so lethargisch, hoffnungslos, vergrätzt und verzweifelt; eigentlich machen sie doch einen ganz sympathischen Eindruck, und man zieht diese Kreuzberger doch immer noch so einer gut bürgerlichen, gut genährten, gut gelaunten, teuer gekleideten, sauberen Mittelklasse vor, man fühlt sich doch automatisch wohler unter denen, auch wenn man nicht der Ansicht ist, dass die Ärmeren nun in irgendeinem Sinne besser, weniger korrumpiert oder durchschnittlich interessanter seien.

Andererseits fände man es toll, wenn man mal wieder Geld hätte, man würde lieber Taxi oder U-Bahn fahren statt Fahrrad und auch das haben wollen, was es sonst noch so an Vergünstigungen für das Reichenpack so gibt. Aber trotzdem: Diese ganze Jammerei, die zuweilen auch den eigenen Kopf lahm legt, ist doch Unsinn, dem Staat die Schuld für die eigenen Krisen zu geben, grundsätzlich falsches Denken, und ob man nun ein paar Mark mehr oder weniger hat, darf doch definitiv nicht entscheidend sein. Wenn die Freundin einen verlässt, wenn jemand stirbt, das ist traurig, aber den Rest sollte man schon irgendwie auf die Reihe kriegen. Würde ich mal sagen, so als Gefühlslinker.

detlef kuhlbrodt

Globale Widersprüche

Im Jahr 2001 bescherten ihr die Proteste in Göteborg und Genua noch eine regelrechte »Wahrnehmungsrevolution«. Inzwischen scheint die Sturm- und Drangphase der globalisierungskritischen Bewegung vorbei zu sein, und die mediale Aufmerksamkeit ebbt ab, was kein schlechtes Zeichen sein muss.

Das Gipfelstürmen hat nicht nur deshalb nachgelassen, weil die Repressionen verstärkt und die Konferenzen in die Einsamkeit der Rocky Mountains verlegt wurden. Es ging einher mit einem Blick von oben, der die »Niederungen« des globalisierungskritischen Alltagsgeschäfts vernachlässigte und - jenseits des gemeinsamen Widerstands gegen einen diffusen Neoliberalismus - den Mythos einer kohärenten Bewegung nährte. Der Reifeprozess der Bewegung verschärfte in den vergangenen Monaten die Widersprüche zwischen den Akteuren.

Attac, als das erfolgreichste Start-up-Unternehmen in Sachen Globalisierungskritik, treibt seinen Umbau zu einer kampagnenorientierten, realpolitischen Kraft voran. Die Organisation vergisst über planetarischen Verträgen und staatsfixierten linkskeynesianischen Revivals, dass Globalisierungskritik nur dann einen langen Atem haben wird, wenn sie an den unterschiedlichen Widerstandspotenzialen im alltäglichen Handeln anknüpft. Jenseits der paternalistischen Blaupausen für eine »andere Welt« und ungeachtet der Vielfalt der Kämpfe werden die Akteure jedoch nicht umhin kommen, sich über einige Kristallisationspunkte des globalen Protests zu verständigen.

Im Jahr 2002 ist der Diskussionsprozess über die konzeptionellen Unterschiede, aber auch über den Umgang mit diesen Widersprüchen in Gang gekommen. Dabei besteht die Gefahr, dass die innerhalb der Linken so beliebten Sezessionskämpfe zunehmen und die Versuchung wächst, das bislang produktive Spannungsverhältnis widerstrebender ideologischer und organisatorischer Elemente zugunsten eines »politischen Reinheitsgebots« aufzulösen. Dann hätten wir Ende 2003 eine NGO mehr und eine soziale Bewegung weniger.

jochen steinhilber

Kurzer Sommer

Ein gutes Jahr war das abgelaufene nicht. Jedenfalls nicht, wenn man es nach dem kategorischen Imperativ beurteilt, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, geknechtetes, verlassenes, verächtliches Wesen ist. Die Linke war fast überall bedeutungslos, und dort, wo sie sich zeigte - etwa bei den antiisraelischen Demonstrationen in Kopenhagen -, ist man dazu geneigt, diesen bedauerlichen Zustand doch als versöhnliche Nachricht zu verbuchen.

Was Deutschland betrifft, sind die wenigen erfreulichen Dinge schnell erzählt. Der wohl effektivste, weil flächendeckende Beitrag zur antifaschistischen Praxis der letzten Jahre war der, den die Elbe lieferte, als sie die Bewohner Grimmas und anderer Browntowns in der Zone für einige Wochen zwang, die Springer- gegen Gummistiefel einzutauschen. Der statistische Beweis steht zwar noch aus, aber vermutlich fiel in Sachsen und Brandenburg der höchste Pegelstand der Elbe zusammen mit der niedrigsten Zahl rechtsextremer Übergriffe seit der Auflösung der Stasi.

Überhaupt, die Nazis: Sie machten sich für Saddam Hussein stark, kungelten mit Islamisten und organisierten Solidaritätsdemonstrationen für Palästina. Tatsachen, die vielleicht einige zum Nachdenken bewegen werden. Doch auf der linken Agenda dürfte etwas anderes stehen, nämlich die verlockende Aussicht, wieder handlungsfähig zu werden. Nicht gegen den Irrsinn des warenproduzierenden Systems, nicht gegen die Kürzung sozialstaatlicher Leistungen, auch nicht gegen den Ausbau der Festung Europa oder gegen den Antisemitismus, der in Europa nach 1945 wohl niemals so deutlich zu Tage trat wie in diesem Jahr. Sondern gegen die USA, dann erst läuft die Linke zur Bestform auf. Die Rolle der Avantgarde haben ihr die politischen Eliten abgenommen, aber immerhin winkt die Nebenrolle als außerparlamentarische Reserve.

Der einzige Trost offenbart die ganze Tristesse: Das kommende Jahr droht noch schauderhafter zu werden.

deniz yücel

Links, linker, am linkesten

Das Linkste an dem, was als der große Antisemitismusstreit in die Geschichtsbücher eingehen wird, ist natürlich, dass sich alle miteinander in die Wolle gekriegt, sich bis aufs Messer gezofft, gespalten und zerstritten haben. Ansonsten wurde bei dieser großen Bambule das Linke nur flüchtig gesehen, irgendwo am Rande, meistens fernab der Debatte.

Schließlich geht es bei politischen Streitigkeiten ja darum, dem anderen nachzuweisen, dass er eben nicht links, sondern rechts ist, am besten natürlich ein Nazi. Allerdings ist an solchen Vorwürfen nicht selten etwas Wahres dran. Denn es ist bekanntlich auch beim Linksten nicht alles links. Es hat also schon etwas Linkes, wenn bei einem solchen Streit Rechtes abgetrennt wird. Antisemitismus zum Beispiel. Warum der sich so beharrlich auch in der Linken halten konnte, während aufs Stehpissen der WG-Ausschluss steht, ist eine Frage, die auch im Jahr 2002 nicht beantwortet werden konnte.

Es kann links sein, gegen Bush zu demonstrieren, oder auch rechts. Nur weil es viele tun, ist es jedenfalls noch nicht richtig. Die Klarheit des politischen Inhalts erreicht man nur auf Kosten der Einheit. Je genauer man trennt, desto weniger bleibt übrig. Besonders links ist es demzufolge, alles möglichst so lange zu zerstückeln und aufzuspalten, bis lauter Individuen übrig bleiben, unfähig zur politischen Intervention. Klingt zynisch, ist aber wahr. Am linkesten ist die sich selbst marginalisierende Linke. So gesehen, war es doch ein erfolgreiches Jahr 2002. Übrigens aus demselben Grund auch für die Rechten. Das klingt jetzt moralischer, als es gemeint ist.

ivo bozic

Regierende Revolution

Eine außerparlamentarische Linke wird auch weiterhin nicht benötigt. Basta. Denn die Linken regieren hierzulande bereits und wurden im Amt bestätigt. Ihre Bilanz sieht so aus:

1. Mehr Umweltschutz. Wer mit dem Auto fährt und seine Wohnung heizt, wird als Umweltsau enttarnt und muss mehr Steuern zahlen. So setzt die Bundesregierung auch Trends fürs neue Jahr: zu Hause bleiben (»Nesting«) und kalt wohnen (»Staying cool«).

2. Mehr Frieden. Dank der Grünen findet Krieg nur noch im Ausland statt. Auf Deutschlands Straßen und Plätzen herrscht Frieden.

3. Soziale Sicherheit. Der Proletarier wurde endlich befreit. Viele Menschen im Land, die vormals Geknechtete waren, sammeln sich heute auf den Fluren des Sozialamts, wo seit der von der SPD gewonnenen Bundestagswahl die Sektkorken knallen. Täglich kann man dort Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger vor Glück weinen sehen.

4. Mehr Freiheit. Jeder hat das Recht, seine Meinung aus den Privatfernsehkanälen zu beziehen und die dort gesehenen Produkte zu kaufen.

5. Mehr Wirtschaftswachstum. Dass linke Regierungen nichts von Wirtschaft verstehen, ist ein altes, dummes Vorurteil, das in diesem Jahr aufs Neue widerlegt wurde. Seit der »Jahrhundertflut« gilt nicht mehr nur in Baden-Württemberg, sondern auch in Sachsen: »Schaffe, schaffe, Häusle baue.« So brummt der Standort Deutschland. Trotz Volksfrontregime.

Deshalb muss für Linke auch künftig gelten: Diese Regierung hat unsere Solidarität verdient, denn sie ist die institutionalisierte Revolution. Friede, Freiheit, Sozialismus, Dosenpfand. Wer sich beschwert, lebt verkehrt. Bereits gedruckte Flugblätter linker Gruppen müssen aber deshalb nicht gleich achtlos in den Hausmüll geworfen werden. Besser ist es, man führt sie dem Altpapierrecycling zu. Sie eignen sich aber auch hervorragend als Einwickelpapier für Weihnachtspräsente.

thomas blum