leserInnenworld

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Jungle World, 48/02: »Schuld und Erinnerung« und ff.

Falsche Schlussfolgerungen

Neben inhaltlichen Einwänden lautet der Tenor der Reaktionen: Das Dossier ist antisemitisch. Die Kritiken an und Einwände gegen das Dossier sind überzogen. Die inhaltlichen Einwände sind rasch zusammengefasst: Ole Frahm und Freunde kritisieren im Wesentlichen eine unzureichende Analyse des Nahostkonflikts. Der Einwand ist so richtig wie der von Wolter, der den Autoren des Dossiers mangelnde Differenzierung entgegenhält. Nur: Gegenstand des Dossiers war weder eine umfassende Analyse des Nahostkonflikts noch eine umfassende Kritik linker Positionen zu demselben. Der Text richtete sich »vor allem gegen die linken Positionen, die eine bedingungslose Solidarität mit Israel (...) einfordern«. Aus diesem Gegenstand erklären sich auch die zugespitzten, zum Teil harschen Formulierungen. Gezeigt werden sollte, dass eine Interpretation des Nahostkonflikts, wie sie u. a. in der bahamas und der konkret vertreten wird, sachlich verkürzt ist und zu falschen politischen Schlussfolgerungen führt.

jan weyand

Suche nach dem Bezug

Die deutsche Linke befindet sich in einem erbärmlichen Zustand. Bereits durch 1989 verunsichert, fällt der Laden spätestens seit dem 11. September 2001 völlig auseinander. Obwohl derzeit viel von Solidarität die Rede ist, lassen viele deutsche Linke ein solidarisches Miteinander völlig vermissen. Ein neuerlicher Tiefpunkt stellt der Leserbrief bekannter und weniger bekannter Antideutscher »Wir Philozionisten« dar. Mittels ultimativer Aufforderung an die Redaktion soll eine offene Debatte über den Nahostkonflikt verhindert werden. Der Stein des Anstoßes, das Dossier »Schuld und Erinnerung«, sei ein antizionistisches Machwerk, mit den AutorInnen dürfe deshalb nicht diskutiert werden.

Nun kann man den AutorInnen sicher einige Kritik entgegenhalten. Udo Wolter sowie Ole Frahm und Freunde haben dies in der folgenden Ausgabe keineswegs zahnlos getan. Die AutorInnen aber als antizionistisch, und in antideutscher Diktion damit als antisemitisch, zu kennzeichnen und ihren Ausschluss aus dem innerlinken Diskurs zu fordern, geht eindeutig zu weit. Und das auch noch, ohne diese Haltung wirklich zu begründen! Das Projekt Jungle World zeichnet sich unter anderem durch einen gewissen linken Pluralismus aus. Daran solltet ihr unbedingt festhalten.

Als Beispiel für abgeschmacktes antideutsches Diskussionsverhalten mag Stefan Ripplingers Diskobeitrag zur Irakfrage dienen (Jungle World, 47/02). Darin schreibt er: »Wer also gegen den Krieg ist, sollte wissen, dass er sich unweigerlich in die Gesellschaft von Trotteln begibt.« Wie arrogant muss jemand sein, der sicher anfechtbare, aber in jedem Fall intelligente Menschen wie Grass oder Habermas schlicht als Idioten abstempelt? So sinnig seine Kritik auch sein mag, durch den von ihm praktizierten Ausschluss delegitimiert sich Ripplinger selbst.

Im Übrigen würde es uns Linken gut anstehen, anstatt uns anhand des Nahostkonfliktes zu zerfleischen, wieder den Bezug zu im weitesten Sinne libertären Bewegungen in der Welt zu suchen. Die gibt es nämlich tatsächlich. Das Titelthema über den sich regenden Widerstand in Hamburg lässt in dieser Hinsicht hoffen.

alexandre froidevaux