Mexiko: Frauenmord in Ciudad Juárez

Tod an der Grenze

Seit neun Jahren fahnden mexikanische Polizisten in Ciudad Juárez ergebnislos nach den Mördern von mehr als 300 Frauen.

Sie habe das Pech gehabt, arm zu sein und eine junge und hübsche Tochter zu haben, sagt Norma Ledezma. »Denn im Bundesstaat Chihuahua jung, arm und hübsch zu sein, ist ein Freibrief für die Mörder.« 16 Jahre alt war ihre Tochter Paloma, als man sie im April außerhalb der nordmexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez aufgefunden hatte. Sie wurde ermordet, wie rund 300 Frauen in den letzten neun Jahren in der Maquiladora-Region. Mindestens weitere 500 junge Frauen gelten dort seit 1993 als vermisst.

Längst haben die Morde für internationale Aufmerksamkeit gesorgt, unter anderem beschäftigte sich die Interamerikanische Menschenrechtskommission mit den Fällen. Die mexikanischen Behörden jedoch können bis heute keine überzeugende Version darüber liefern, wer hinter den Taten steckt. Deshalb reisten Angehörige der Opfer am 25. November, dem Internationalen Tag gegen Gewalt gegen Frauen, nach Mexiko-Stadt. Sie forderten »Justicia«, Gerechtigkeit. »Nicht eine Tote mehr, nicht eine Frau weniger«, riefen sie auf einer Demonstration mit über 5 000 Beteiligten. Nun müsse endlich Präsident Vicente Fox einschreiten. Schließlich weigert sich die Generalstaatsanwaltschaft (PGR) noch immer, die Fälle zu übernehmen.

»Meine Tochter verschwand am 8. Mai 1995«, berichtet Berta Alicia Marquez, die Mutter von Adriana Torres, »doch erst nach sechs Monaten wurde sie gefunden, ermordet in der Wüste.« Wie viele Eltern erfuhr Alicia Marquez erst spät vom Tod ihrer Tochter. Häufig verscharren die Mörder die Leichen im Wüstensand. Viele Tote werden nie identifiziert, nur Kleidungsstücke lassen zunächst auf ihre Identität schließen. Immer weisen die verbliebenen Reste der Frauen darauf hin, dass die Opfer auf brutale Weise ermordet wurden: vergewaltigt, erwürgt, erstochen, enthauptet.

Die meisten von ihnen waren Migrantinnen, 15 bis 25 Jahre alt, und hatten langes dunkles Haar. Viele arbeiteten in einer der rund 350 Maquiladoras, jener Weltmarktfabriken mit niedrigen Löhnen, die sich an der Grenze zu den USA angesiedelt haben. Andere lebten von der Prostitution, wieder andere verdienten als Verkäuferinnen ihr Geld. Um die Busse zu erreichen, die in die Innenstadt fahren, mussten sie oft lange Strecken zurücklegen. Zu Fuß und auf unbeleuchteten Straßen. Denn die Verkehrsverbindungen sind schlecht in Ciudad Juárez, wo sich viele Menschen provisorisch am Stadtrand angesiedelt haben, in der Hoffnung, eines Tages doch noch den Sprung über den Rio Bravo ins nordamerikanische El Paso zu schaffen.

Aber warum werden die Frauen umgebracht? Erklärungsversuche gibt es viele. Sind Banden für die Morde verantwortlich, die mit weiblichen Organen handeln? Produzenten von Pornovideos? Handelt es sich um psychopathische Einzeltäter? Oder steckt die Drogenmafia hinter den Morden? Schließlich regiert in Ciudad Juárez das größte Kartell Mexikos, ein großer Teil des in den USA konsumierten Kokains soll von hier aus über die Grenze gebracht werden.

Irma Campos Madregal von der Organisation Por Nuestras Hijas de Regreso a Casa (Für die Rückkehr unserer Kinder nach Hause) hält alles für denkbar. Sie geht nicht von einer einzigen, allen Fällen gemeinsamen Ursache aus, auch wenn gleiche Tötungsmuster bei vielen der Opfer auf Serienmorde hindeuten. »Es sind nicht alles Serienmorde. Es gibt Männer, die davon profitieren und ihre Freundin, die ihnen nicht mehr passt, einfach umbringen«, wirft eine ihrer Mitstreiterinnen ein. Die wesentliche Ursache sei die Straflosigkeit. »Wenn sich die Täter wie im Paradies bewegen können, dann wird alle Welt in Ciudad Juárez Verbrechen begehen«, kritisiert Madregal.

Tatsächlich haben die Strafverfolger bis heute wenig unternommen, um den Mördern auf die Spur zu kommen. Im Jahr 1995 verhaftete die Polizei einen mutmaßlichen Täter, doch das Morden ging weiter. Später wurden zwei Banden ausgehoben, unter ihnen Los Ruteros, eine Gruppe von Busfahrern. Sie sollen zwölf Morde gestanden haben, allerdings unter Folter, wie die Beschuldigten selbst erklärten. Sie wurden nie verurteilt. Polizeibeamte erschossen später einen Rechtsanwalt, der die Ruteros verteidigt hatte. Auch als im November des vergangenen Jahres acht Frauen tot aufgefunden wurden, nahm man zwei Verdächtige fest. Fotos, medizinische Gutachten sowie die Aussage eines ehemaligen Strafverfolgers bestätigen jedoch, dass auch diese Männer unter Folter zu Aussagen gezwungen wurden. Und wieder ging das Morden weiter, zwischen dem Januar und dem Juni 2002 fand man sieben Frauenleichen.

Nicht nur diese Umstände sprechen dafür, dass die Behörden in die Verbrechen verstrickt sind. Beweise verschwinden, wichtige Zeugen werden ignoriert, Menschenrechtler und Journalisten werden bedroht. Machismus, Korruption und undurchsichtige Verbindungen zwischen der Polizei, den Politikern, der Drogenmafia und den Grenzbehörden lassen ernsthafte Ermittlungen erst gar nicht zu. Schon siebenmal wurde die Führung der 1998 ins Leben gerufenen Spezialstaatsanwaltschaft ausgetauscht.

Bis heute hat die Polizei keine einzige der Leichen gefunden. Immer waren es von den Angehörigen organisierte Suchtrupps, die die Toten in der Wüste ausfindig machten. Vor allem aber klagen die Eltern der Opfer über die Arroganz und Ignoranz, mit der man ihnen begegne. »Die Polizei macht sich über uns lustig und behauptet, wir hätten unsere Töchter schlecht behandelt«, sagt Norma Ledezma.

»Unwirksam, inkompetent, indifferent, unsensibel und nachlässig«, so beschrieb im April dieses Jahres der Uno-Menschenrechtsbeauftragte, Dato'Param Coomaraswam, die Haltung der zuständigen Staatsanwaltschaft. »Es gibt kein wirkliches Interesse, die Verantwortlichen zu finden«, schlussfolgert auch die Aktivistin Madregal, »und noch weniger, der Gewalt und dem Tod vorzubeugen.« Ende November erklärte der Gouverneur des Bundesstaates Chihuahua, Patricio Martinez, die Verbrechen gehörten der Vergangenheit an. Schließlich seien keine weiteren Fälle aufgetaucht. Norma Ledezma reagiert inzwischen gereizt auf solche Behauptungen: »In Chihuahua gibt es kein Gesetz.« Am Tag vor der Erklärung von Martinez seien zwei weitere Leichen gefunden worden.