Platons Produktion

Hannah Arendt räumt in ihrem »Denktagebuch« mit der idealistischen Philosophie auf. von stefan ripplinger

Hannah Arendts »Denktagebuch« ist ein Schock für alle, deren geistiges Wachstum mit Injektionen von Platon oder Platon-Derivaten stimuliert worden ist. Denn selbst die marxistische Philosophie, die manche für den großen Gegenentwurf zum Platonismus und Idealismus halten, steht noch in deren Bann. Wer aus guten Gründen Schluss machen will mit alledem, muss neu anfangen. Ebendas versucht Arendt in diesen Notizbüchern, die in den fünfziger bis siebziger Jahren entstanden, Reflexionen und Exzerpte enthalten, auch etliche Gedichte, aber so gut wie nichts Privates.

Das ist Programm; das Private ist (wie die Freizeit) ein Komplement der modernen Produktion und steht in striktem Gegensatz zum Politischen. Einen anspruchsvollen Begriff des Politischen zu entwickeln, ist unabdingbar geworden, seitdem die unpolitische abendländische Philosophie sich als Wegbereiterin des Totalitarismus erwiesen hat. Gleichwohl erwähnt Arendt ihre Voraussetzungen nur beiläufig. Wen auch hätte sie über diese aufklären müssen? Sie ist hier zwar nicht privat, aber intim, sie spricht mit sich selbst.

Um zwei Oppositionspaare kreisen die Notate der ersten Hefte: Einsamkeit und Verlassenheit, Handeln und Herstellen. Das Denken ist einsam, es geht vom Selbstgespräch aus. »Das Mit-sich-selbst-Sprechen ist nicht bereits Denken, aber es ist die politische Seite alles Denkens: dass sich selbst im Denken Pluralität bekundet.« Entfaltet sich das Denken politisch, dann nur dialogisch, »in der Zwiefalt und Zwietracht der Einsamkeit«. Dem gegenüber steht das religiöse »An-denken«, ein Zusammensein mit Gott, das weltlos, also auch unpolitisch ist.

Es stellt sich die Frage, warum das Zusammensein mit Gott, obwohl sie es einmal auch »Zwiesprache« nennt, nicht als Dialog gefasst wird. Doch Dialog heißt hier, auf das einsame Denken bezogen, sich selbst ein Anderer zu werden. Im Gegensatz zum Verlassenen realisiert der Einsame »das Essential des Alter, das Anderssein-als«, und dass »ich diese Andersheit realisieren kann, indem ich mit mir selbst bin, ist die Bedingung der Möglichkeit, dass ich als ein Anderer mit Anderen sein kann«. Deshalb ist die alterierende Einsamkeit »die Bedingung der Möglichkeit der Gemeinschaft«.

Der christliche Gott aber figuriert als der Gleiche, er wendet sich an sein Ebenbild, an den Einzelnen, während die alte jüdische Religion noch die »politische Einsicht« besaß, dass »Gott als Einer und die Menschen nur im Plural existieren können«. »Erst in späterer Spekulation nicht-jüdischer Herkunft wird aus dem Einen Schöpfer der Vielen die Idealisierung des Einen und die Vorstellung Gottes als der ›Idee des Menschen‹ im platonischen Sinne. Aus dieser folgt konsequent, dass das (politikon) in den Menschen als ein Einzelwesen verlegt wird.« So verarmt der Dialog zum Monolog. Der jüdische Gott, der große Andere, sprach zum Volk Israel, zu einer Pluralität.

Arendts Überlegungen dienen der Schärfung des common sense, für sie der auf den Andern ausgerichtete »sechste Sinn«. Mit Hobbes sei der Begriff auf eine »Logik, ein Rechnen mit Konsequenzen« herabgekommen, erst recht in der landläufigen Übersetzung als »gesunder Menschenverstand«.

Es erstaunt, dass, ihr dialogisches Denken vorausgesetzt, sie im common sense nicht die Sprache wieder erkennt, die das eigentliche soziale Sinnesorgan des Menschen ist. Hier und da streift sie diese Erkenntnis. »Sobald wir denken, sprechen wir.« Der Satz bestreitet das Denken des Verlassenen; aber vielleicht denkt er noch, spricht er nur nicht mehr. »Jedesmal, wenn man sich zurückzieht, verfällt man der Vieldeutigkeit der Einsamkeit. Man verliert seinen Namen.« Wenn die Einsamkeit in die Verlassenheit übergeht, geht aber nicht nur der Name, es geht auch die Sprache verloren.

Noch mehr erstaunt, dass sie die ihrem Denken so nahe Dialogphilosophie nicht konsultiert. Franz Rosenzweigs Kampf gegen den von Hegel vollendeten Platonismus war doch der ihre, sein Satz, der Idealismus habe »das große Gebäude der Wirklichkeit zerstört«, könnte in ihrem Tagebuch stehen.

Doch sie beruft sich nicht auf die jüdische Tradition, sie widerruft die christliche. Ihre Auseinandersetzung gilt zunächst ihren Lehrern; Heidegger ist auf fast jeder Seite präsent. Ihn sieht sie in die Falle gegangen, die er sich selbst gestellt hat; er feiert das Sein, weil er das Leben nicht erträgt.

Marx, der anders als die in ihren selbst gebauten Fallen sitzenden Philosophen die Welt verändern will, denkt sich die ideale Welt doch als eine, in der Handeln sinnlos wäre. Dieser traurige Traum folgt notwendig aus der Verkürzung und Verödung der Arbeit zu herstellendem Tun, Indiz für eine Verachtung der Arbeit und des Lebens, die nur mehr gerechtfertigt erscheinen, wenn sie »einem ›höheren Zweck‹« dienen, dem Produkt, der Gesellschaft, der Geschichte. Indem aber für Marx Handeln Herstellen ist, verdammt er dieses zur »Realisierung der Idee – auch das Herstellen des Tisches ›realisiert‹ ein (eidos)«, eine Art. Mit der Herstellung immer gleicher Tische nach der Idee »Tisch« ist der Platonismus an sein Ende gekommen.

Gewaltsam ist das Herstellen auch in der von Marx proponierten unentfremdeten Form, weil stets lebendiger individueller Stoff (z.B. ein Baum, Lebenszeit) zu beliebigem Material (Holz, Arbeitszeit) umgeschaffen wird. Angedeutet ist, dass wie ihr Material auch die Arbeiter ersetzbar geworden sind. »Das Hergestellte kann man vernichten. Herstellen hat niemals die Qualität des Nicht-wieder-rückgängigmachen-Könnens.«

Die Materie ist ohne die ihr prädizierte Idee wertlos, der Materialismus ein anderer Idealismus. Arendt hält Marxens »verzweifelten Versuch, ›Materialist‹ zu werden« durchaus für »ehrenwert«. Was er jedoch »ebenso übersah wie Hegel, ist die ›Wirklichkeit‹«. Um des Wirkens, um der Dinge, um der Menschen willen lebte man, der Ziele, Zwecke und Resultate wegen hörte man wieder damit auf.

Marxens unpersönlichen Arbeitsbegriff vergleicht Arendt mit Nietzsches »ewiger Wiederkehr«, dessen amor fati wiederum hält sie für ein buddhistisches Betrachten des großen Schauspiels der Welt, also für nichts als »Selbst-Verlassenheit«. Für Hegel, Marx und Nietzsche gilt gleichermaßen, dass mit der »Auflösung des Selbst, der modernen Selbst-losigkeit (…) die Teufelei« beginnt, »weil ohne das Selbst ein Kontakt zu Anderen schlechterdings nicht mehr herstellbar ist«. Von solchen überraschenden und fruchtbaren Einsichten sind die Bände voll. Arendts Streiten wider Hegel, Marx und Nietzsche, die folgenreichsten Gestalten der europäischen Metaphysik, bereitet durchweg großes Vergnügen.

Wenig zu holen bleibt da für die zeitgeschichtlich Interessierten. Wenn Arendt gelegentlich auf Schriften und Ereignisse der Zeit eingeht, fasst sie sich kurz (eine Ausnahme bildet die Analyse der Kritik an ihrem Eichmann-Buch). Amüsant ihr Satz über »La Condition ouvrière«, Simone Weils Untersuchungen zur Fabrikarbeit: »die wirkliche Ratlosigkeit« beginne »nach der Lösung des sozialen Problems«. Aktuell ihre Auseinandersetzung mit Carl Schmitts (im Auftrag der Nazis verfasste) Polemik gegen den »gerechten Krieg«. Ohne den Begriff retten zu wollen, verweist sie auf seinen Ursprung im amerikanischen Konzept des Vertrags und auf die Ideologisierung des Friedens bei Schmitt. Seine Nachfolger sind ohne Zahl.

Problematisch am »Denktagebuch« bleibt sein Antimodernismus. So notwendig eine fundamentale Kritik der europäischen Tradition ist, die Beschwörung eines vorplatonischen Lebens und Redens wirkt idyllisch. Kann es denn eine Rückkehr zum ziellosen, politischen Denken des sophos Sokrates geben? Gewiss ist nur, dass der platonische philosophos, der die Welt preisgab, um eine eigene zu bauen, Vorbereiter, ja Handlanger ganz realer Zerstörungen war. Allein schon diese Entdeckung ist wertvoll und sollte in Erinnerung gerufen werden, bevor zum nächsten Mal erst angeknüpft, dann aufgeknüpft wird.

Hannah Arendt: Denktagebuch. Hg. v. Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann. Piper, München und Zürich 2002, zwei Bände, insgesamt 1 230 S., 118 Euro