Farewell, Porto Alegre!

Auch in Lateinamerika wird das Weltsozialforum in Frage gestellt. Denn es richtet sich gegen den Neoliberalismus und nicht gegen den Kapitalismus. Emanzipatorische Positionen finden hier keinen Rückhalt. von andrés pérez gonzález, santiago de chile

Eine andere Welt ist möglich«, proklamiert Attac, die wichtige Trägerorganisation des Weltsozialforums (WSF), das zum dritten Mal in Folge in der brasilianischen Stadt Porto Alegre abgehalten wird. Aber welche Welt ist möglich? »Eine sozialistische Welt ist möglich«, kann man in einer Erklärung des Partido Socialista de los Trabajadores Unificado (PSTU), einer brasilianischen Partei mit trotzkistischem Einschlag, lesen.

Das WSF entstand als eine Antwort auf das Weltwirtschaftsforum in Davos, das seit mehr als 30 Jahren stattfindet und die ausgewählte Elite des weltweiten Neoliberalismus vereint, unter anderem Präsidenten, Staats- und Regierungschefs, Bürokraten internationaler Finanzinstitutionen, Manager transnationaler Unternehmen.

Das WSF nimmt seiner Charta der Prinzipien zufolge keine andere Position ein, als nach Alternativen zur neoliberalen Globalisierung zu suchen; es versteht sich als Raum für Debatten und Treffen. Die Kritiker des Treffens, zu denen ich mich zähle, bezichtigen die Beteiligten eines reformistischen Geistes, der sich für einen »neuen, humaneren und solidarischeren Kapitalismus« einsetzt.

Ein Mitglied von Attac-Chile antwortete auf meine Frage, warum es unbedingt einer der 30 000 Delegierten aus rund 5 000 Gruppen aus 121 Staaten sein wolle, auf dem Diskussionsforum seiner Website: »Wir gehen nach Porto Alegre, weil der Kampf auf der Straße und auch in den Foren stattfindet. Ohne Theorie keine Aktion … Wir gehen dorthin, um uns mit hunderttausenden Bürgern der ganzen Welt zu vereinen, die an eine bessere Welt glauben, die von einfachen, notwendigen Protesten dazu übergehen wollen, Alternativen vorzuschlagen. Wir werden dorthin gehen, um global zu denken und lokal zu handeln.«

Verschiedene lokale oder regionale Foren sind dem Treffen vom 23. bis 28. Januar vorangegangen. Allein im letzten Jahr wurden das Argentinische Forum (Buenos Aires, August), das Europäische Forum (Florenz, November) und das Afrikanische Forum (Äthiopien, Dezember) organisiert. Und für dieses Jahr sind das Asiatische Forum (Indien, Anfang dieses Monats), das Panamerikanische Forum (Ecuador, Oktober) und das Mittelmeer-Forum (Spanien, November) geplant.

Aber was steckt hinter diesem WSF und seinen Abkömmlingen, die von seinen Kritikern als »Agenten des Kapitalismus« betrachtet werden?

»Es ist das Produkt politischer, gesellschaftlicher und institutioneller Kräfte der ganzen Welt, das auf einer Klassenallianz gründet, die auch als fortschrittlich betrachtete kapitalistische Unternehmer einschließt«, sagt die Federación Anarquista Gaucha (FAG) aus dem brasilianischen Bundesstaat Rio Grande del Sul, in dem auch Porto Alegre liegt. Im Übrigen sei es kein Zufall, dass das WSF in der Stadt und in dem Staat Brasiliens stattfindet, in dem traditionell der Partido de los Trabajadores (PT) des gegenwärtigen Präsidenten Luiz Inacio »Lula« da Silva regiert.

Das Ziel der Organisatoren ist es den brasilianischen Anarchisten zufolge, einen politischen Kampf mit konstruktiven Vorschlägen gegen den Neoliberalismus in Gang zu setzen, was als Versuch betrachtet werden kann, die wachsende globalisierungskritische Bewegung zu »domestizieren« und zu »kooptieren«. Hingegen hat das WSF, folgt man dem Urteil eines baskischen Unabhängigkeitsaktivisten, der im letzten Jahr daran teilnahm, erfolgreich »mit seiner Ablehnung der Sozialdemokratie einen weltweiten Bezugspunkt geschaffen und einen Wiedererkennungsgrad erreicht, von dem traditionelle Parteien nur träumen können«.

Neuerdings kritisiert die FAG, dass »die Ideologen des WSF sich bemühen, diese monströse Klassenallianz auf globaler Ebene mit dem strategischen Ziel durchzusetzen, ein Projekt weltweiter sozialdemokratischer Hegemonie als effektive Alternative mit dem Zweck der Verwaltung des Systems durch eine neue administrative Rationalität zu fördern«.

Und die FAG scheint Recht zu haben, betrachtet man die zentralen Forderungen der Organisatoren auf wirtschaftlicher Ebene. Es geht um die Kontrolle über die Finanzkapitalien, mit denen gegen die Ökonomien der Länder der Peripherie spekuliert wird (Tobin-Steuer von Attac); um die Etablierung von Normen für einen gerechten und gleichen Handel, der sich gegen den Freihandelsvertrag mit den USA und die amerikanische Freihandelszone Alca wendet; um eine Politik, die das nationale produktive Kapital, die kleinen und mittleren Unternehmer begünstigt.

Auf politischer Ebene tritt das WSF für die Wiedererlangung der Souveränität des Nationalstaats ein, ausgehend von der erneuten Etablierung des Gleichgewichts zwischen den formalen, institutionellen Gewalten und den konsultativen Mechanismen gegenüber der Bevölkerung (partizipative Demokratie).

Letztlich scheint die Revolution außerhalb des Horizontes der am WSF Beteiligten zu liegen. Ihr Antineoliberalismus kann nicht einmal als »Antikapitalismus« bezeichnet werden. Ein Beispiel: Attac-Chile bezeichnet die Machtergreifung des ehemaligen Arbeiters und Gewerkschaftsführers Lula in Brasilien als »transzendierende Tatsache« und als »neue Erfahrung«.

Der ulkige »Wille zur Einheit in der Vielfalt«, der von den WSF-Organisatoren bekundet wird, stößt unvermutet auf die Verherrlichung der »Bürger« oder der »Zivilgesellschaft«, wo sich ohne größere Komplikationen ein weites Spektrum von Nichtregierungsorganisationen und Politikern fortschrittlicher Regierungen entfaltet.

Im 21. Jahrhundert ist das bestimmende Merkmal des »Bürgers« jedoch seine Teilnahme am Konsum, nicht seine Zugehörigkeit zu einer Stadt. Und so kommt es, dass die Ausgegrenzten nicht auf diesem Forum anwesend sein werden (wegen der Reise- und Aufenthaltskosten), sondern allein die »Gurus« oder Repräsentanten, die im Namen ihrer Bevölkerungen sprechen.

So bevorzugt man es auf dem WSF auch, keine Themen zur Frage der Regierbarkeit zu behandeln. Eine der Konferenzteilnehmerinnen beispielsweise wird die Vorsitzende der KP Chiles sein, Gladys Marin. Sie beteiligt sich an dem Forum: »Die große Wirtschafts- und Finanzkrise: Worin besteht sie? Welche Alternativen gibt es zu ihr?« An dem Forum über »die Unterschiede und Spannungen zwischen sozialen Bewegungen, politischen Parteien und politischen Institutionen: Wie unter diesen Bedingungen kämpfen, um eine partizipative Demokratie zu erreichen?«, werden die Außenministerin Kanadas, Louise Beaudoin, und der glänzende brasilianische Parlamentarier und PT-Vorsitzende José Genoíno teilnehmen.

Das spanische Gegeninformationskollektiv La Haine hat eine Einladung zur Teilnahme an einem der Foren abgelehnt und sie so begründet: »Wir sind ein Planet von Schafen, die von einem Rudel Wölfe behütet werden, für die wir nicht mehr sind als das Mittel zur Befriedigung eines immer währenden Hungers. Das WSF erweckt den Eindruck, als sei es möglich, diese Realität so zu ändern, dass daraus eine kooperative Beziehung zwischen Gleichen wird, was der Natur der Wölfe völlig entgegengesetzt ist. Wir behaupten, dass die Natur der Wölfe so ist, wie sie ist, dass sie nun mal Fleischfresser sind und dass sie deshalb nicht damit aufhören werden, sich von uns zu ernähren, solange sie existieren. Wir können deshalb nicht an diesen Foren teilnehmen, weil sie – bewusst oder unbewusst – an der Aufrechterhaltung der Unterdrückung im Austausch für ein wenig Teilhabe am neokapitalistischen Besäufnis mitarbeiten.«

Angesichts des »Antiglobalisierungsdiskurses« und der Dringlichkeit »kreativer« politischer und kultureller Aktionen scheinen die gesellschaftlichen Bewegungen in Argentinien, die sich mit Autonomie und Radikalität entwickeln, dem WSF ein wenig Verstand zu liefern. So erklärt Osvaldo Cogiola vom trotzkistischen Partido Obrero aus Argentinien, der an den früheren Treffen teilnahm: »Die Krise der Menschheit stellt dringender denn je die Frage nach der Macht und dem Übergang zu einer Gesellschaft ohne Ausbeutung und ohne Staat im Anschluss an die Eroberung der Macht durch die Arbeiter (…). Jetzt ist nicht die Stunde der ›Antiglobalisierung‹, sondern die Stunde der systematischen Vorbereitung, sei sie politisch, kulturell, organisatorisch, kämpferisch, auf die sozialistische Revolution.«

Aber der emanzipatorische Kampf erfordert keine ausgebauten Wege und rigiden politischen Programme. »Das christliche Abendland hat uns daran gewöhnt, bei der Suche nach Antworten in rationalen Figuren alles zu zerreden, bevor wir einen Schritt tun«, so drückt es ein bekannter ehemaliger Aktivist des mittlerweile aufgelösten Movimiento de Izquierda Revolucionaria (Mir) aus; der Mir verfolgte vor einigen Jahrzehnten in Chile die guevaristische Linie.

Die allermeisten Gruppen, die sich am WSF beteiligen, agierten politisch »wie ein Architekt vor dem Bau eines Hauses. Und wenn sie nicht klar sehen, bewegen sie sich nicht und vergessen, dass keine Wege existieren, sondern dass sie durchs Gehen entstehen, in Jahrhunderten des Kampfes gegen die Unterdrückung, aus einem Kampf der Bevölkerungen gegen die Macht und nicht aus einem ideologischen Kampf«, fügt er hinzu.

Der argentinische Historiker, Journalist und Schrifststeller Osvaldo Bayer schrieb: »Alle Freiheit, die die Menschheit jemals errungen hat, ist durch Kampf errungen worden.« Und dieser Kampf bedeutete Bakunin zufolge immer eine »Taufe in Blut«.