Zyprioten aller Länder

Erst die Vereinigung, dann der Beitritt zur EU: Mit dieser Formel soll das Zypernproblem gelöst werden. von ralf dreis

Es war die größte Demonstration in der Geschichte der Insel. 200 000 Menschen leben in der Türkischen Republik Nordzypern, rund 70 000 von ihnen versammelten sich in der vergangenen Woche in Nikosia und forderten den Rücktritt des Präsidenten Rauf Denktas. »Wir können nicht noch 30 Jahre warten«, stand auf den Transparenten: »Denktas, mach Frieden oder tritt zurück!«

Wenn sich die Konfliktparteien bis Ende Februar auf eine Lösung des Zypernproblems verständigen können, kann der von der Türkei besetzte Inselteil gemeinsam mit der griechischen Republik Zypern im Jahr 2004 der EU beitreten. Da die meisten türkischen Zyprioten auf eine solche Möglichkeit hoffen, wächst mit jeder Verhandlungsrunde der Druck auf Denktas, seine Blockade aufzugeben.

Was bis vor kurzem im autokratisch regierten Nordzypern unmöglich schien, gehört mittlerweile fast zur Tagesordnung: Streiks und Massendemonstrationen, in denen die Wiedervereinigung der Insel und der Rücktritt des Patriarchen gefordert werden. Bereits Ende Dezember fand eine große Demonstration mit über 40 000 Teilnehmern statt, zu der erstmals nicht nur die aus Gewerkschaften und linken Oppositionsparteien bestehende Plattform »Dies ist unser Vaterland«, sondern auch die nordzypriotische Wirtschaftskammer aufgerufen hatte.

Der gewachsene Mut der Bevölkerung hängt vor allem mit dem Ausgang der türkischen Parlamentswahlen im November zusammen. Der ehemalige Ministerpräsident Bülent Ecevit, der in gleicher Funktion 1974 den Einmarsch der türkischen Truppen auf Zypern befehligt hatte, erlitt dabei eine vernichtende Niederlage. Keine der Parteien, die Denktas’ Politik nach dem Motto »keine Lösung ist die Lösung« unterstützen, ist noch im Parlament in Ankara vertreten. Und der Vorsitzende der gemäßigten islamischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), Recep Tayyip Erdogan, signalisierte nach seinem Wahlsieg Kompromissbereitschaft in der Zypernfrage.

Da der seit 30 Jahren unangefochten auf Nordzypern regierende Denktas nicht bereit scheint, seine starre Haltung zu ändern, hat sich der Konflikt zwischen ihm und Erdogan zu Beginn des Jahres verschärft. Der AKP-Vorsitzende machte öffentlich klar, dass Denktas nicht allein darüber entscheide, ob und wie in Zypern verhandelt werde.

Sein Kontrahent reagierte beleidigt. Er vertrete nur die seit drei Jahrzehnten bekannten türkischen Positionen, sagte Denktas. Eher werde er zurücktreten, als einen Vertrag zu unterschreiben, der die Souveränität und Selbstbestimmung der türkischen Bewohner missachte.

Hier liegt der Kern des Konflikts. Die Regierung in Ankara will das Problem endlich lösen, um die angestrebten EU-Beitrittsverhandlungen voranzubringen. Denktas, der türkische Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer und das türkische Militär wollen aber den nördlichen Teil der Insel weiterhin kontrollieren.

Nach Umfragen der EU-Kommission befürworten jedoch 88,4 Prozent der türkischen Zyprioten die Vereinigung der Insel und den Beitritt zur EU. Sie erhoffen sich eine Verbesserung ihrer desolaten wirtschaftlichen Lage und mehr demokratische Rechte. Auch der Plan, den der UN-Generalsekretär Kofi Annan im November präsentierte, findet Zustimmung.

Er sieht die Schaffung eines Bundesstaates nach Schweizer Vorbild vor. Beide Teilstaaten sollen weitgehende Unabhängigkeit genießen und über eigene, mit umfangreichen Befugnissen ausgestattetene Parlamente verfügen. Nach außen würde Zypern jedoch vereint auftreten und, ähnlich wie in der Schweiz, das Staatsoberhaupt nach dem Rotationsprinzip bestimmen.

Darin liegt jedoch nach Meinung der griechischen Bewohner das größte Problem. Seit 30 Jahren sehen sie die türkischen Zyprioten als Besatzer an, von denen sie sich in Zukunft nicht regieren lassen wollen.

Die türkische Seite hingegen interessiert vor allem die so genannte Territorialfrage. Seit dem Einmarsch im Jahr 1974 steht rund ein Drittel Zyperns unter türkischer Verwaltung. Dem Plan zufolge sollen die Stadt Morphou, einige Dörfer um die Hauptstadt Nikosia sowie das verwaiste ehemalige Tourismuszentrum Varosha an die Griechen zurückgegeben werden. So könnten nach und nach auch 80 000 frühere griechische Einwohner zurückkehren.

Das aber stößt im Norden auf große Vorbehalte. Auf beiden Seiten müssten viele der jetzigen Einwohner ihre Häuser verlassen, sollten die alten Besitzer tatsächlich zurückkehren, was wiederum komplizierte Entschädigungsverfahren zur Folge hätte.

Vorgesehen ist ferner die Entmilitarisierung der Insel. Schrittweise sollen die 35 000 türkischen Soldaten abgezogen und durch eine vom vereinten Zypern bezahlte multinationale Sicherungstruppe ersetzt werden.

Ein weiterer Streitpunkt sind die türkischen Staatsbürger, die von der Türkei auf der Insel angesiedelt wurden. Unterschiedlichen Angaben zufolge beträgt ihre Zahl zwischen 60 000 und 120 000. Der UN-Plan sieht vor, dass ein Teil von ihnen in die Türkei zurückkehren soll. Wer schon länger auf der Insel lebt, soll als Zypriote anerkannt werden. Wegen der unklaren Statistik stößt dieses Vorhaben sowohl bei türkischen als auch bei griechischen Zyprioten auf Widerstand. Während die Griechen eine Veränderung des demoskopischen Verhältnisses beklagen, haben die türkischen Zyprioten ganz andere Vorbehalte. Viele betrachten die Türken, die vom Festland gekommen sind, als Denktas’ faschistische Hilfstruppe.

Unabhängig davon aber scheint sich das politische Gefüge in Nordzypern zu wandeln. So verhält sich die größte türkisch-zypriotische Tageszeitung, Kibris, die traditionell Denktas unterstützt, gegenüber den Demonstrationen neutral bis vorsichtig zustimmend. Auch die Rechte, repräsentiert vom Ministerpräsidenten Derwis Eroglou und von Serdar Denktas, dem Sohn des Präsidenten und Vorsitzenden der Demokratischen Partei, hält sich zurück. Ende des letzten Jahres sprach dieser sich für eine »gerechte, lebensfähige Lösung« aus. »Die Politik, nach der die Nichtlösung die beste Lösung für Zypern ist, ist endgültig vorbei«, sagte er und bezog erstmals öffentlich Stellung gegen seinen Vater.

Auf griechischer Seite will der 84jährige Präsident Glavkos Kleridis bei den Wahlen am 16. Februar erneut kandidieren, um zu verhindern, dass Tassos Papadopoulos, ein Gegner des UN-Vorschlags, sein Nachfolger wird. Während der Linksnationalist Papadopoulos im südzypriotischen Wahlkampf von der postkommunistischen Akel unterstützt wird, hofft die türkisch-zypriotische Linke auf einen erneuten Sieg des bürgerlichen Kleridis. Er kündigte bereits an, nur 16 Monate im Amt zu bleiben, um die Vereinigung mit dem Norden zu bewirken und mit dem gemeinsamen Beitritt zur EU sein Lebenswerk zu vollenden.