»Es gibt genug Gemeinsamkeiten«

Janet Conway

Am Dienstag der vergangenen Woche ging das bislang größte Weltsozialforum (WSF) in Porto Alegre zu Ende. Mit der Teilnehmerzahl und der Beteiligung etablierter Politiker wuchs jedoch auch die Kritik. Wurde aus der als Treffen von Basisaktivisten konzipierten Veranstaltung ein Forum für NGO-Profis und ein Ort sozialdemokratischer Integrationspolitik?

Janet Conway unterrichtet Politikwissenschaft an der Ryerson University in Toronto. Im August 2001 rief sie mit anderen das Toronto Social Forum ins Leben, sie ist Mitglied in dessen Koordinationsausschuss. In diesem Jahr nahm sie zum zweiten Mal am WSF teil. Mit ihr sprach Ferdinand Muggenthaler.

Was hat Sie in Porto Alegre am meisten beeindruckt?

Allein an einem Ort zu sein mit 100 000 Leuten, die alle explizit gegen Neoliberalismus sind und gegen den Krieg, die alle der Meinung sind, dass eine andere Welt möglich ist, das ist schon ein unglaubliches Gefühl. Spürbar war das auf den wenigen Massenveranstaltungen, z.B. auf der Eröffnungsdemonstration.

Andere meinen, die Veranstaltung sei einfach zu groß, um eine vernünftige Funktion zu erfüllen.

Es gab dieses Jahr eine Menge logistischer Probleme, so gab es bis zum dritten Tag kein gedrucktes Programm. Andererseits war es die schiere Größe, die das Treffen auf die politische Landkarte der Eliten gebracht hat. Aber die Größe ist nicht alles. Die wirkliche Bedeutung des Sozialforums ist, dass es einen Prozess angestoßen hat, der sich über die ganze Welt ausbreitet. Letztes Jahr kam die Idee auf, dass es regionale, nationale und lokale Sozialforen geben sollte. Und tatsächlich haben sich überall Sozialforen gegründet, auch hier in Toronto.

Wenn es überall lokale Foren gibt, die auch sehr stark von ihrem lokalen Kontext geprägt sind, worin besteht dann die Gemeinsamkeit?

Diese Frage macht vielen Leuten Sorgen. Ich denke, es ist die falsche Frage. Es gibt genug Gemeinsamkeit in der Opposition zum Neoliberalismus. Die zweite wichtige Klammer ist, dass sich das Sozialforum als pluralistisch begreift. Es gibt überhaupt keine Notwendigkeit für eine gemeinsame Strategie und Ideologie. Es geht darum, sich aneinander zu reiben, voneinander zu lernen.

Haben Sie Vorbilder?

Ich persönlich fühle mich am meisten angezogen von den Versuchen, eine solidarische Ökonomie zu entwickeln, die es z.B. in Indien, in Brasilien und in Teilen Italiens gibt. Diese Leute sprechen davon, die Ökonomie von unten neu aufzubauen. Ich denke, das ist der Schlüssel zu einer wirklichen Veränderung: nicht die staatliche Macht zu übernehmen, sondern die Wirtschaft auf anderen Prinzipien aufbauen.

Sie sagen, die Bewegung ist vereint gegen den Neoliberalismus. Das ist doch eine Ideologie. Warum nicht vereint gegen den Kapitalismus?

Es waren verschiedene Diskurse über den Kapitalismus auf dem Sozialforum präsent, und das ist gut so. Da sind die orthodoxen Marxisten, die Kapitalismus als eine Einheit betrachten, mit einer bestimmten Logik, der man mit einer bestimmten Gegenlogik begegnen muss. Andere sagen, dass der Kapitalismus historisch verschiedene Formen angenommen hat, wieder andere meinen, man muss eine alternative solidarische Ökonomie von unten neu entwickeln. Es gibt eine breite Diskussion über die Produktion und die Verteilung von Reichtum, und die traditionelle sozialistische Rhetorik ist dabei zum Glück nicht dominant.

Dafür scheinen Sozialdemokraten immer mehr an Einfluss zu gewinnen.

Es stimmt, dass viele Sozialdemokraten sehr interessiert sind, und nicht nur sie. Sogar die Weltbank würde gerne dabei sein. Mich hat das sehr beunruhigt, weil es leicht die Bewegung spalten könnte. Aber in der Abschlussveranstaltung haben die Organisatoren noch einmal betont, dass das Forum ein Raum für Bewegungen, Initiativen und Organisationen aus der Zivilgesellschaft ist und kein Ort, um mit der Weltbank zu verhandeln. Es ist sehr wichtig, dass diese Unabhängigkeit von Parteien und Institutionen erhalten bleibt.

Trotzdem haben die großen Medien nur über den Auftritt der Präsidenten Brasiliens und Venezueleas, Luiz Inácio »Lula« da Silva und Hugo Chávez, berichtet.

Weil die großen Medien sich vor allem für Politiker in formalen Machtpositionen interessieren. Es gibt auch Leute in der Linken, die nur in diesen Kategorien denken. Ich halte das für Unsinn. Auf dem Forum gab es das Verständnis, was Lula macht, sei seine Sache, und wir machen unsere Politik. Obwohl in Brasilien, wo die Beziehung zwischen den Bewegungen und Lulas Arbeiterpartei eine ganz besondere ist, diese Trennung manchmal etwas verschwimmt. Auch deshalb finde ich die Entscheidung sehr gut, nächstes Jahr nach Indien zu gehen.

Gegen den Neoliberalismus zu sein, heißt oft, für die Stärkung des Nationalstaats einzutreten. Dieses Ziel hat auch die Rechte. Spielte diese Diskussion in Porto Alegre eine Rolle?

Ich habe niemanden darüber reden gehört. Die allermeisten Teilnehmer sind Aktivisten in ihrem jeweiligen Kontext, und sie kommen zum Forum, um sich in transnationalen Netzwerken auf ihrem jeweiligen Gebiet zu organisieren und um zu erfahren, wie Aktivisten aus anderen Ländern denken. Der Nationalstaat ist zwar für alle ein wichtiger Referenzpunkt, weil er nach wie vor ein wichtiger Machtfaktor ist, aber es geht nicht darum, den Nationalstaat gegenüber den internationalen Institutionen zu stärken.

Trotzdem spielten Debatten über den Nationalstaat in diesem Jahr eine größere Rolle als im letzten, weil viel über Strategien diskutiert wurde und über die Frage, ob und wie man den Staat beeinflussen soll. Das ist ein alter blinder Fleck linker Bewegungen. Wenn sie über Macht und Veränderung reden, denken sie an den Nationalstaat. Aber die meisten Bewegungen agieren auf einer anderen Ebene. Wir als Toronto Social Forum begreifen uns als urban, wir begreifen Toronto als eine Stadt, die offen ist für die Welt. Und viele Initiativen sind noch lokaler organisiert.

Aber wie sehen die Visionen aus? Zurück zu lokalen, abgeschlossenen Communities oder Grenzen auf nicht für das Kapital, sondern für die Menschen?

Diese Widersprüche sind präsent, aber bis jetzt kein Problem. Die Maßstäbe, in denen Politik gedacht wird, sind sehr verschieden. Aber ich denke, es ist aussichtsreicher, sie nebeneinander bestehen zu lassen.

Viele verstehen das Forum als Stimme des Südens oder der Armen. Aber Arme können sich den Flug nach Porto Alegre wohl kaum leisten.

Teilweise wird, zum Beispiel von Kirchen und Gewerkschaften in Kanada, einigen Leuten aus Partnerorganisationen im Süden der Flug finanziert. Aber das ändert die Zusammensetzung nicht wirklich. Deshalb denke ich, es müsste mehr darüber nachgedacht werden, wie man mit dem Problem umgeht. Ähnliches gilt auch für Frauen und Indigénas. In diesem Jahr waren nur wenige Indigénas zu sehen. Und es gibt zwar viele Frauen, die teilnehmen, aber nur sehr wenige im Organisationskomitee.

Was mich fassungslos gemacht hat, ist, dass die brasilianische Landlosenbewegung MST, eine Bewegung von Armen, sogar im Organisationskomitee sitzt, aber im mehrsprachigen Programm gar nicht auftauchte.

Was erhoffen Sie sich in der Zukunft?

Ich verspreche mir viel davon, dass das Forum nächstes Jahr in Indien stattfindet. Es muss raus aus Amerika, aus dem Westen. In Asien können wir von vielen Erfahrungen profitieren, die die Bewegungen dort gemacht haben. In Indien gibt es starke marxistische Gruppen, aber auch eine starke Frauenbewegung und von Gandhi inspirierte Bewegungen. Und es wird ein Treffen von dunkelhäutigen Menschen werden, während bis jetzt vor allem Weiße beteiligt waren. Wie gesagt, die Ausbreitung ist die Stärke des Forums. Wir sind bis jetzt noch nicht an die Grenzen dieses Modells gestoßen.