Freiheit für 300 Dollar

Martin Scorseses neuer Film »Gangs of New York« hat in den USA eine Geschichtsdebatte entfacht. von josefine köhn

Herz«, sagt er und stößt zu, »Niere, Magen.« Mit jedem Wort surrt sein Messer durch die Luft, hinein in den von der Decke baumelnden Schweinekörper; so lange, bis Bill the Butcher seinem neuen Zögling anhand der klaffenden Wunden alle tötenden Einstiche gezeigt hat: »Und jetzt Du!« Es sind blutige Szenen wie diese, die Martin Scorsese in seinem neuen Film »Gangs of New York« präsentiert, der auf dem gleichnamigen historischen Roman von Herbert Ashbury basiert.

Mit diesem Film sorgt Scorsese nicht nur in der Filmwelt für Aufruhr. Er holt auch einen fast vergessenen Teil der US-Geschichte zurück in die Öffentlichkeit und sorgt für rege Diskussionen unter Historikern.

In »Gangs of New York« geht es um die Zeit der Masseneinwandererung aus Irland in die USA, die in den so genannten Draft Riots von 1863 ihren Höhepunkt fand. Es war eine Zeit, in der das Land der Freiheit die Ankömmlinge oft nur vor eine Wahl stellte: Geld her oder sterben. Wer sich nicht für 300 Dollar freikaufen konnte, musste in den Krieg gegen die Südstaaten ziehen, obwohl die Rekruten fürchteten, die knappen und schlecht bezahlten Arbeitsplätze an flüchtige Sklaven aus dem Süden zu verlieren. Viele gingen lieber in den Untergrund, gingen den Weg der Korruption, des Verrats, den Weg von Blut, Gewalt und Aufstand gegen jede Obrigkeit, den Weg der »Gangs of New York«.

In einer Führung durch den Gerichtsbezirk New Yorks erläutert Seth Kamil, Historiker, Gründer von »Big Onion Walking Tours« und Koautor der »Encyclopedia of New York«, wie viel Wahrheit in dem Film steckt, weil Gewalt, Elend und Korruption im damaligen Five Points, den Slums von New York, zum Alltag gehörten. All das ist so schauderhaft, dass Big Onion die Tour als nicht jugendfrei ausweist.

Er erzählt von den Hurenhäusern, davon, dass jede Frau, die es wagte, nach dem Sonnenuntergang allein auf der Straße zu sein, für eine Prostituierte gehalten wurde und vergewaltigt werden durfte. Tag für Tag brachten die Schiffe mehr Einwanderer in die Stadt, hauptsächlich Iren. Waren es im Jahr 1850 noch 236 000, so kamen 1910 bereits zwei Millionen Einwanderer. Sie fanden kaum Platz in den überfüllten Behausungen. In der Enge machte sich Aggressivität breit, ideal für Gangs und Gewalt. Wer es zu sonst nichts brachte, verdiente sein Geld beim Kartenspielen, beim Wetten oder bei den Boxkämpfen, die erst endeten, wenn ein Mann bewusstlos zu Boden ging. All das fand sich in den Five Points, dem ersten Melting Pot New Yorks.

Five Points heißt so, weil sich dort, wo heute die City Hall, das Court House und das Criminal Courts Building stehen, fünf Straßen trafen. Der Platz, in den sie mündeten, war der Paradise Square, der Hauptschauplatz der Bandenkriege im Film. »Jede der Gassen Five Points ist ein Finger. Und wenn ich sie schließe, werden sie zur Faust«, lässt Scorsese Billy the Butcher (Daniel Day-Lewis) sagen, den unumstrittenen Gangsterboss von Five Points und Anführer der »Bowery Boys«.

Im Gegensatz zu seinem Widerpart Amsterdam (Leonardo DiCaprio) existierte er wirklich und stieß die Klingen seiner Schlachtermesser gern in menschliches Fleisch. Der Beruf des Metzgers war in den Five Points verbreitet. Als dort, wo heute die Canal Street verläuft, noch Wasser floss, wurden Rinder zu ihrem letzten Trunk an die nahe gelegene Cow Bay geführt. Kadaverreste entsorgte man im einzigen Trinkwasserreservoir.

Charles Dickens beschrieb die Slums um den Paradise Square und die Old Brewery, die 1792 dort stand, wo zwischen 1920 und 1930 das heutige Court House errichtet wurde, als schlimmer als alles, was er in London je gesehen hatte. »Heruntergekommene Häuser, offen hin zur Straße, durch die weiten Spalten sieht das Auge weitere Ruinen ragen, als ob die Welt des Lasters und des Elends nichts anderes zu zeigen hätte; versteckte Mietskasernen, die benannt sind nach Raub und Mord; all das ist verabscheuenswürdig, heruntergekommen und verfallen hier«, so Dickens in seinen »American Notes«.

Aber selbst in den Five Points konnte man es zu Reichtum bringen. So erhielt George W. C. Conners, der wohl bekannteste Tourguide der damaligen Zeit, dem sich reiche amerikanische Familien und das schwedische Königshaus anvertrauten, 100 Dollar für sein Geleit.

Auch Polizeioffiziere besserten ihr Budget mit Führungen auf. Um die Sicherheit ihrer Schützlinge gewährleisten zu können, bezahlten sie Schutzgeld an die Gangsterbosse. Ein rentables Geschäft, wenn man bedenkt, dass das Gehalt der 1845 gegründeten Municipal Police bei zwölf Dollar in der Woche lag. Wollte ein Polizeibeamter befördert werden, kaufte er sich den Titel von seinem Vorgesetzten. Korruption war das beste Geschäft in den Five Points; und die dazugehörigen Abmachungen waren das einzige Gesetz, das befolgt wurde. Scorsese und seinem Team geht nicht die Phantasie durch, Betrug und Korruption waren selbst unter höchsten Politikern verbreitet.

William Boss Tweed, Mitglied der demokratischen Tammany Society und von 1853 bis 1855 Kongressmitglied, machte Milliarden, indem er Bauprojekte der Stadt an Freunde vergab. Seine Wählerstimmen kaufte er sich für einen Dollar, ein Bier und die vermeintliche Aussicht auf einen Job. Viele der irischen Einwanderer, die oft nichts besaßen, ließen sich dieses Angebot nicht entgehen.

Es waren so viele Iren, dass sie oft sogar den Schwarzen die ohnehin schlecht bezahlten Jobs wegnahmen. Ein Punkt, der im Film zu kurz kommt, wie Historiker meinen. »Gangs of New York« reduziert den Konflikt durch den Kampf zwischen den »Dead Rabbits« und den »Bowery Boys« fast ausschließlich auf die Iren und diejenigen Weißen, die bereits in Amerika geboren wurden. »Dabei richtete sich der Hass der in Amerika Geborenen nicht nur gegen die Iren, sondern auch gegen die Afroamerikaner«, sagt Seth Kamil. Umgekehrt bedeutete der Kampf gegen die Sklaverei für die Iren letztlich, diejenigen zu befreien, die ihnen später die Jobs wegnehmen würden.

»Befreite Sklaven hätten für noch weniger Lohn gearbeitet«, meint Kamil. »Was ein weißer Mann für einen Quarter tun würde, macht ein Ire für einen Cent, ein Nigger für einen Nickel«, legt Scorsese Bill the Butcher in den Mund. Damit, und mit ein paar gelynchten Schwarzen, ist der offene Rassismus abgehandelt. Dass von den 100 Menschen, die offziziell während der Riots starben, die meisten schwarz waren und dass ein Waisenhaus für Schwarze abgebrannt wurde, wird auf der Leinwand nicht gezeigt. Vielleicht, weil die Kamera vor allem das Gesellschaftsbild der damaligen Gangs nachzeichnen soll. Und in ihnen beschäftigte man sich weniger mit der Sklaverei und der Rassentrennung, als mit Geld und dem nackten Überleben.

»Da wäre eine ganz eigene Geschichte über die Schwarzen in Amerika zu erzählen, auf die der Film gar nicht eingeht«, kritisiert auch Iver Bernstein, Professor für Geschichte an der Washington University in St. Louis und Autor von »The New York City Draft Riots«. »Als ich 1990 mein Buch schrieb, ließ sich nicht viel über das Ereignis der Draft Riots an sich finden. Warum? Die Scham über das, was geschehen war, war einfach zu groß, sogar schon kurz nachdem die Ausschreitungen niedergeschlagen worden waren. Die Nordstaaten wollten sich als eine vereinte und patriotisch gesinnte Gemeinschaft sehen und darstellen«, so Bernstein.

»Dies war der hässliche Teil der Geschichte«, meint Seth Rockmann, Gastprofessor an der Brown University, der gerade an einem Buch über die Sklaverei in jener Zeit schreibt. »Wir Amerikaner wollten und wollen an das Gute in unserem Land glauben, daran, dass die Nordstaaten einhellig für das Ende der Sklaverei kämpften, ohne zur Wehrpflicht gezwungen werden zu müssen.«

Amerika sehe sich selbst als das Land der tausend Möglichkeiten, doch Hunderttausende schafften es im 19. Jahrhundert nicht. »Das ist Geschichte«, sagt Rockmann, »Geschichte, die wir nicht wirklich gerne erzählen.«