Leserinnenworld

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Jungle World, allgemein

Offener Brief

Wir sind AutorInnen und AktivistInnen der radikalen Linken, die eine politische Affinität zur Jungle World hatten und zum Teil noch haben. Die meisten haben seit der Gründung der Zeitung dazu beigetragen, deren Infrastruktur zu stärken, und haben sie gerne als Debattenblatt genutzt, als ein Forum, um sich jenseits von autoritären Strukturen, von Sektierertum, über politische Theorie und Praxis zu verständigen. Verstärkt in den letzten Monaten mussten wir feststellen, dass sich die Jungle World als Forum linksradikaler, antinationalistischer Debatten selbst abschafft.

Bezüglich des Nahostkonfliktes wird der Antisemitismusvorwurf zunehmend undifferenziert eingesetzt, antimilitaristische Positionen bezüglich eines Irakkrieges werden marginalisiert. Es besteht die Tendenz, Antisemiten und Antimilitaristen, die in mehreren Artikeln beschimpft wurden, in einen Topf zu werfen, um im Gegenzug die Unterstützung Israels mit der Befürwortung des Krieges gleichzusetzen und alle widersprechenden Positionen des Antisemitismus zu verdächtigen. Beiträge, die bellizistische Positionen kritisieren, werden, wenn sie veröffentlicht werden, häufig diffamiert, eine öffentliche Auseinandersetzung wird verweigert, auch wenn damit langjährige AutorInnen vor den Kopf gestoßen werden.

Die Bekämpfung von Antisemitismus und Rassismus ist seit den neunziger Jahren ein wesentlicher Bestandteil linksradikaler Theorie und Praxis. Nun aber verkommt die Kritik des Antisemitismus in der Jungle World zu einem Ticket. Der deutsche bzw. nationalsozialistische Antisemitismus wird auf die in Teilen antisemitisch geprägten palästinensischen Bewegungen übertragen, was einem historischen Kurzschluss gleichkommt. Während die Shoah die Verwirklichung des Antisemitismus war, kann der Nahostkonflikt nicht allein auf der Ebene des Antisemitismus beurteilt werden.

Der Kurzschluss, der der Logik »Saddam, der neue Hitler« folgt, rechtfertigt Unterdrückung und Krieg. Es wird eine Weltlage beschworen, die man so nahe an die Konstellationen der vierziger Jahre heranschreibt, bis die US-Alliierten als Befreier und (antideutsche / linke) KriegsbefürworterInnen als antifaschistische WiderstandskämpferInnen reinkarniert werden. Damit wird in der Jungle World der westliche Wahrnehmungshorizont bestätigt, der offiziell antitotalitäre Werte vor sich her trägt und imperiale (Kriegs-) Lösungen und autoritäre Machtausübung für unvermeidlich erklärt. Die Beitrittserklärungen einiger Linker in diese Weltordnung stehen einer kulturalistischen Ideologie zur Seite. In dem Maße, wie solche Kurzschlüsse zur einzig wahren Linie erklärt werden, begeht die radikale Linke politischen Selbstmord: Linke Politik, die sich nicht mehr als Herrschaftskritik begreift, macht sich überflüssig.

Wir fordern euch auf, die Auseinandersetzung wieder zu ermöglichen, statt die Wochenzeitung (anti-)deutschtümelnden Hegemoniebestrebungen auszuliefern. Gegenwärtig wird über zentrale Fragen in der Jungle World nicht mehr gestritten, sondern abgeurteilt. Das Resultat ist absehbar: Jungle World wird zum Sektenblatt und wird damit seine Funktion verlieren. Es wäre schade drum.

Hartmut Amon, Jochen Baumann, Tom Binger, Tanja Bogusz, Sabeth Buchmann, Jean Cremet, Klaus Holz, Elfriede Müller, Irit Neidhardt, Darius Ossami, Marianne Ostermann, Alexander Ruoff, Bernhard Schmid, Edo Schmidt, Jens Schneiderheinze, Kollektiv Schwarze Risse, Thomas Seibert, Enzo Traverso, Peter Ullrich, Unrast Verlag, Jan Weyand, Wolf Wetzel, Mag Wompel, Raul Zelik