Die Masse ist die Message

Die größten Friedensdemonstrationen der Nachkriegsgeschichte setzen den USA freundlich gesonnene Regierungen in Europa unter Druck.

Body Count

War die Räumung des Londoner Flughafens Heathrow in den vergangenen Woche nur eine ausgedehnte Propagandamaßnahme, bei der die britische Armee die Statisten stellte? Viele Briten sind sich sicher, dass die jüngsten Terrorwarnungen einen verzweifelten Versuch der Regierung darstellen, die Kontrolle über die öffentliche Meinung zurückzugewinnen. Sollten die Panzer in der Londoner Innenstadt tatsächlich Propagandazwecken gedient haben, ist das Kalkül nicht aufgegangen: Am vergangenen Samstag fand in London die größte Demonstration der britischen Geschichte statt. Nach Angaben der Polizei zog mehr als eine Million Menschen durch die Innenstadt.

Die Stimmung in der Bevölkerung treibt der Antikriegsbewegung Menschen in Scharen zu. Sogar eine der größten Boulevardzeitungen, der Daily Mirror, trommelt seit Monaten vehement gegen einen Angriff auf den Irak. Andrew Murray, der Vorsitzende der Stop the War Coalition (CSW), drückt das verbreitete Gefühl der Aktivisten aus, wenn er sagt: »Wir haben das Gefühl, wir müssen uns anstrengen, um mit der Stimmung in der Bevölkerung mitzuhalten.« Die Friedensbewegung ist von ihrem eigenen Mobilisierungserfolg überrascht.

Glücklicherweise haben der linksliberale Guardian und der Daily Mirror in der vergangenen Woche Ratgeber für Neulinge veröffentlicht. Wichtigster Punkt: Nehmt euch ausreichend Verpflegung mit, weil ein Zwischenstopp bei McDonald’s nicht gerne gesehen wird. »Normalerweise gehe ich ja nicht auf Demonstrationen, aber diesmal gehen alle mit«, erklärt eine Schülerin aus der Provinz und winkt mit einem Stück Pappe. Darauf ist zu lesen, dass in Kriegen Unschuldige sterben.

Viel mehr ist auf der Abschlusskundgebung im Hyde Park auch nicht zu erfahren. Tony Benn, der Altlinke der britischen Sozialdemokratie, fordert eine globale Umverteilung. Ein Sprecher des muslimischen Dachverbandes schimpft auf die zionistische Lobby, danach spricht der Vorsitzende der Liberaldemokraten, Charles Kennedy. Wer trotz nasser Füße noch nicht genug hat, kann sich anschließend die Reden von Bischöfen, Gewerkschaftern und ehemaligen Regierungsmitgliedern anhören.

Das Bündnis, das die Demonstration organisierte, ist so pluralistisch, dass darin sowohl trotzkistische Parteien, Gewerkschaften, Pazifisten als auch religiöse Gruppen einen Platz finden. Auf der Demonstration führt das zu skurrilen Szenen, als verschleierte Frauen die Plakate der Socialist Workers Party (SWP) schwenken. Die überwiegende Mehrheit der Demonstranten allerdings ist politisch desinteressiert. Die mehr oder weniger schüchternen Interventionen der radikalen Linken gehen in der Masse unter.

Auf den gewaltigen body count, so wird das Feilschen um die Teilnehmerzahlen süffisant bezeichnet, reagierte Premierminister Blair noch am Wochenende mit der zweifelhaften Aussage, manchmal müsse man als Staatsmann auch unpopuläre Entscheidungen treffen.

Aber ist wirklich die Mehrheit gegen den Krieg? Meinungsumfragen zeigen, dass immer noch eine wenn auch schrumpfende Mehrheit eine Intervention befürwortet, solange sie von den Vereinten Nationen abgesegnet wird. Was aber, wenn der Irak demnächst wirklich angegriffen wird? »Wir dürfen jetzt nicht aufhören, wir müssen die Bewegung weitertreiben«, sagt Andrew Murray und kündigt noch mehr Demonstrationen an.

»Aznar, du bist der Terrorist«

Das gab es noch nie. In Madrid gehen 1,5 Millionen Menschen auf die Straße, in Barcelona ist es mehr als eine Million, in Andalusien sind es 700 000. In Zaragoza und Valencia bricht wegen der jeweils 400 000 Demonstranten der Innenstadtverkehr komplett zusammen. In über 350 Städten finden Protestveranstaltungen statt. »Nicht einmal gegen den Militärputsch von 1981 demonstrierten so viele«, erinnert sich ein älterer Teilnehmer. In zahlreichen Bars, Fabriken und Rathäusern, an Häuserwänden und in Kinos wird zum Protest aufgerufen.

An dem Ereignis nehmen nicht nur die sonst aktiven sozialen Bewegungen, Gewerkschaften, Oppositionsparteien und NGO teil. Alle Generationen und sozialen Schichten »besetzen« buchstäblich die Straßen. Auch das Motto der Anti-Nato-Bewegung der achtziger Jahre taucht wieder auf: »Nein zur Nato, Militärbasen raus.« »Für eine Welt ohne Imperialismus«, rufen die Anhänger der Kommunistischen Partei und der so genannten Antiglobalisierungsbewegung. Aber auch Palästinafahnen und Symbole, die Israel und die USA mit Nazideutschland gleichsetzen, sind zu sehen.

Insgesamt fast fünf Millionen Teilnehmer bestätigen die Meinungsumfragen der letzten Wochen. 85 Prozent der spanischen Bevölkerung lehnen einen Krieg gegen den Irak ab. Die Kampfansage an die Regierung ist deutlich. »Aznar, tritt zurück, das Volk hält dich nicht aus. Aznar, Faschist, du bist der Terrorist«, lauten die Sprechchöre.

Die Regierung sei zu weit gegangen und das werde sie die Macht kosten, meinen nicht nur die Demonstranten. Auch viele Politiker und Journalisten sind sich einig, dass Aznars Politik den Graben zwischen der Regierung und der Bevölkerung weit geöffnet habe. Erst der Generalstreik im Juni letzten Jahres, dann die Tanker-Katastrophe vor der galicischen Küste im November und nun der mögliche Krieg gegen den Irak. »Man kann nicht gegen den Willen der Bevölkerung regieren«, kommentiert die konservative Tageszeitung El Mundo. Keine Frage, Aznar steckt in der schwierigsten Krise seit seinem Amtsantritt.

Totalitäre Pazifisten

Sogar die italienische Regierung kann eine Million Demonstranten nicht mehr ignorieren. »Der Frieden ist nun weiter von uns entfernt«, kommentiert verstimmt Vize-Ministerpräsident Gianfranco Fini von der postfaschistischen Alleanza Nazionale die größte Demonstration in der Nachkriegsgeschichte des Landes. Doch von dem »totalitären Pazifismus«, von dem er spricht, ist am vergangenen Samstag in Rom nichts zu sehen.

Die Demonstration gleicht eher einem Volksfest. Unter der Parole »Nein zum Krieg, ohne wenn und aber« haben sich Autonome neben Katholiken, Studenten, Migranten- und schwul-lesbischen Gruppen, Gewerkschaften, Vertretern der Stadtverwaltungen und linken Parteien versammelt. Es gibt aber auch viele, die zu keiner organisierten Gruppe gehören. Jeder hat seine Flagge, sein Transparent oder Plakat mitgebracht. »No war, no blood for oil«, war am häufigsten zu lesen. Aber auch: »Nieder mit Hussein, Bush und Berlusconi.«

Die Stimmung im Land wendet sich gegen Ministerpräsident Silvio Berlusconi. Jüngsten Umfragen zufolge sind 80 Prozent der Italiener gegen einen Krieg. »Berlusconi steckt im Dilemma, er würde sich jetzt wohl am liebsten vom Falken in eine Taube verwandeln«, kommentiert die linksliberale Tageszeitung La Repubblica. Bislang ohne Erfolg. Sein origineller Vorschlag, den libyschen Präsidenten Muammar el Gaddafi als Vermittler im Konflikt mit Saddam Hussein einzuschalten, stieß in Washington nicht gerade auf Begeisterung. Mittlerweile hat Berlusconi sogar den Papst gegen sich aufgebracht. »Der Vatikan macht seine Außenpolitik, wir unsere«, erklärte Verteidigungsminister Antonio Martino in der vergangenen Woche, als er den USA die Benutzung aller italienischen Verkehrswege zusagte.

»Wir sind alle Iraker«

»Was wollen wir nicht?« Die Antwort auf diese Frage kommt in Paris schnell und aus vielen Kehlen: »Krieg.« Doch wenn die junge Frau am Mikrofon fragt: »Was wollen wir?«, dann müssen schon ihre Genossen auf dem Lautsprecherwagen kräftig rufen, um eine Antwort hörbar zu machen: »Echte Renten« oder »Schulen« sind keine Parolen, die die rund 200 000 Pariser Demonstranten mitreißen können. Außer dem Nein zum Krieg scheint sie kaum etwas zu verbinden, die alte, bucklige Frau aus Chalons en Champagne und den jungen Trotzkisten unter dem Transparent gegen »die imperialistischen Kriege in Irak, Palästina und Elfenbeinküste«.

Gemeinsam sind ihnen höchstens noch zwei Feinde. »Bush-Sharon: Mörder«, lautet immer wieder ein Sprechchor. Als die Frau im roten Plüschmantel im Gespräch mit ihrer Freundin die Vermischung der Irakkrise und des Nahost-Konflikts kritisiert, wehrt diese schnell ab: »Lass uns ein andermal darüber reden, nicht hier.« Vor ihnen gehen ein paar Demonstranten, die unter irakischen und palästinensischen Fahnen immer wieder »Allahu akbar«, Gott ist groß, rufen, oder: »Wir sind alle Iraker«.

Anderswo legt man mehr Wert auf französische Traditionen. Die gaullistische Union hält mit der Trikolore auch das Ideal der staatlichen Souveränität hoch. Die Situation sei schon fast so wie 1938, erklärt ein Parteimitglied, wie damals Nazideutschland seien nun die USA dabei, mehr und mehr Länder unter ihre Herrschaft zu bringen. Sie müssten gestoppt werden. Ein paar hundert Meter weiter ragt eine riesige US-Fahne aus der Menge, die Sterne wurden durch ein Hakenkreuz ersetzt.

Die Bretonin, die ein Wikingerschiff mit der Aufschrift »Schluss mit allen imperialistischen Kriegen« schiebt, ist sich heute ganz mit der Zentralregierung einig. Die Haltung von Präsident Jacques Chirac und Außenminister Dominique de Villepin sei richtig und sehr mutig. Das findet sogar die Frau von der Initiative für eine revolutionäre kommunistische Partei: »Die Sozialisten haben nie so klar Position bezogen.«

Bei so viel Regierungstreue, gemischt mit Ausflugsstimmung, halten sich die Ordnungskräfte diskret im Hintergrund. Nur auf der Place de la Bastille, dem Ziel der Demonstration, drehen vier Polizisten eine Runde und sehen zu, wie einige Teilnehmer über die Absperrung zur Siegessäule klettern, um auf deren Sockel im Abendlicht einträchtig die irakische, die französische, die palästinensische und die rote Fahne zu schwingen.