Schön und unsympathisch

Sandrine Veyssets »Martha, Martha«

Ein Waldweg an einem trüben Tag. Eine Frau geht auf die Kamera zu. Die Einstellung nimmt sie mit langer Brennweite auf, deshalb scheint es, als komme sie kaum von der Stelle. Obwohl die Sequenz im Zeitraffer läuft. So zappelt und ruckelt und springt die Frau schließlich doch immer näher in den Vordergrund, bis ihr Kopf aus dem Bild herauszuckt. Die Aufnahmen handeln davon, dass jemand sich innerlich zerreißt, nicht deckungsgleich wird mit sich selbst und aus der Enge von Zeit und Raum fliehen will.

Es ist dies die Geschichte von Martha. Alles, was Martha tut, folgt der Prämisse, dass ihr Ich im Vordergrund steht. Sie packt nicht mit an bei der Arbeit auf den südwestfranzösischen Flohmärkten, wo sie und ihr Freund Reymond Second-Hand-Klamotten verscherbeln. Sie hilft auch nicht im Haushalt. Wenn sie ihre Tochter, die sechsjährige Lise, zur Schule bringen soll, kommt sie zu spät. Sie guckt im Beisein der Tochter Horrorfilme oder macht brutale Witze über den Tod oder bescheißt sie beim Spielen. Sie überfällt die bourgeoise Schwester Marie, die reich geheiratet hat, in Spanien und provoziert einen Eklat. Martha erscheint als eine impulsive, schöne, junge und sehr unsympathische Frau.

Martha muss sich ständig selbst behaupten, offensichtlich steht in jeder noch so banalen Situation ihre ganze Existenz auf dem Spiel. Rücksichtnahme, Hineinversetzen in andere kann sie sich da nicht leisten. Deshalb vermag sie ihrem Leben keine Richtung zu geben, deshalb treibt es auf den Abgrund zu.

Sandrine Veysset zeichnet dieses Leben in ihrem dritten Spielfilm nüchtern auf, wie in einer Chronik. An ungeduldigen Deutungen liegt ihr nichts. Auch in dieser Arbeit konzentriert sie sich lieber darauf zu zeigen, welchen Rohstoff für das Erzählen die Familie birgt.

Als Martha endgültig die Sicherungen durchbrennen, haut sie ab, und die Erzählung bleibt bei denen, die sie zurücklässt, bei Lise und Reymond. Die Restfamilie funktioniert, Vater und Tochter kriegen den Alltag hin. Zeit geht ins Land, die beiden feiern allein Weihnachten. Das ist nicht traurig, sie sind sich selbst genug, fast wie ein Liebespaar.

Weshalb Martha irre geworden ist, kann man ahnen: wegen einer Ur-Verletzung, später wegen einer Vergewaltigung und des Verhältnisses zu ihrer Tochter, die sich vor ihr fürchtet und der trotzdem nichts anderes übrig bleibt, als nur ihre Mutter aufrichtig zu lieben – wie lange noch?

Aber man erfährt nichts über Marthas Zeit des offenen Wahnsinns. Sie verschwindet einfach von der Bildfläche, später wird sie aufgegriffen und behandelt werden, dann holen Reymond und Lise sie ab.

Sediert kehrt Martha zurück in den Schoß der Familie, in das neue Zuhause eines alten, leeren, einer Burg ähnlichen Kastens. Noch steckt überall der Winter drin, der Himmel ist grau, die Bäume sind kahl. Reymond hackt Holz, holt Wackersteine aus dem Bett eines reißenden Baches, der um das Haus tobt, oder erledigt sonstwie Notwendiges. Lise spielt. Nur Martha wirkt deplatziert wie ein Gespenst. Ein kalter Hauch von grausamen Märchen weht durch diese Rückzugslandschaft.

stefan pethke

»Martha, Martha« (F 2001) R: Sandrine Veysset. Kinostart: 6. März