Zwischen den Polen

Amerikanischer Imperialismus ist böse, europäischer ist okay. Das sehen und praktizieren Deutschland und Frankreich so. In Polen ist man da skeptischer. von konrad lischka

Von den Neogaullisten bis zu den Nationalpazifisten waren sich in Frankreich alle einig: Polen hätte besser nicht unterschrieben, dass Europa »zum großen Teil dank des Mutes, der Großzügigkeit und der Weitsicht der Amerikaner« im 20. Jahrhundert gleich »zwei Mal von Tyrannei befreit« wurde. Die Worte standen in dem Ende Januar veröffentlichten Aufruf acht europäischer Staaten. Es wäre für Polen eine gute Gelegenheit gewesen zu schweigen, erklärte daraufhin der französische Staatspräsident Jacques Chirac. Bundeskanzler Gerhard Schröder sah keinen Grund, Chirac »in irgendeiner Weise zu kritisieren«.

Die polnische Regierung schon. Ihre Außenpolitik und die Reaktion auf Chiracs Angriff ist bestimmt von der Furcht vor einem neuen Imperialismus, der ausgeht von den aufrechten Antiimperialisten in Deutschland und Frankreich. Polens sozialdemokratischer Außenminister Wlodzimierz Cimoszewicz forderte »gleichen Respekt für die Rechte aller Länder«. Die mit Stimmungen immer sehr geschickt spielende Boulevardzeitung Super-Express titelte: »Chirac jagt uns für die Unterstützung der Amerikaner.« Nach dieser Lesart geht es keineswegs darum, dass interne Abstimmungsprozeduren in der EU gewahrt werden. Polen soll einfach linientreu im Block bleiben.

Bei diesen Feststellungen hört allerdings in Polen die Einigkeit auf. Die rechtsextremen Parteien, die vor allem jenes Drittel der Bevölkerung vertreten, das sich als Transformationsverlierer sieht, sind seit jeher ebenso gegen die europäische Integration wie gegen zu enge Beziehungen zu den USA.

Andrzej Lepper, Vorsitzender der Bauernpartei Samoobrona, blieb in der momentanen Auseinandersetzung vergleichsweise still. Vielleicht weil Samoobrona in Warschau und Lepper im Parlament gegen den Irakkrieg demonstrierten. Ähnlich reagierte die klerikal-fundamentalistische Familienliga LPR. Ihr Abgeordneter Maciej Giertych brachte den Konflikt auf den Punkt, als er seine Verachtung der »Servilität des Premiers Miller und seiner Regierung gegenüber externen Elementen« aussprach. Er meinte damit sowohl die »von Freimaurern und Deutschlandfreunden« propagierte EU-Integration als auch die Vereinigten Staaten.

Die Gewinner des Systemwechsels und die größte Bevölkerungsgruppe, die noch zwischen sozialem Auf- und Abstieg hängt, sind für eine Partnerschaft mit der EU und den USA. Diese Position der Bevölkerungsmehrheit und der größten Parteien hat nichts mit Unentschiedenheit zu tun. Sie ist eine sehr bewusst gewählte Strategie, sich nicht an eine Hegemonialmacht zu binden. »Man sollte nicht versuchen, die europäische Identität durch den Gegensatz zu den Vereinigten Staaten zu definieren«, kommentierte deshalb Cimoszewicz die Äußerungen Chiracs.

Die enge Partnerschaft mit den USA dient vor allem sicherheitspolitischen Interessen. Europäische Staaten haben Polen in den vergangenen Jahrhunderten entweder selbst angegriffen oder trotz Bündnisverpflichtungen nicht gegen Angriffe verteidigt. Auf den Schutz durch die USA, ergo die Nato, vertrauen die Polen nicht allein wegen dieser historischen Erfahrungen. Immerhin leben in den Vereinigten Staaten heute neun Millionen Menschen polnischer Abstammung.

Diese transatlantische Verbindung wird auch als Gegengewicht zum Einfluss Deutschlands gesehen. Zwischen 1993 und 1998 wuchsen die deutschen Exporte nach Polen um 230 Prozent, dann ging es langsamer nach oben. 40 Prozent der gesamten Importe aus der EU liefert Deutschland, und zwar seit Anfang der neunziger Jahre mit konstant zunehmenden Handelsbilanzüberschüssen. Das Exportvolumen wächst im Moment um ein Drittel schneller als das Importvolumen.

Wegen der Umweltvorschriften der EU sind überdurchschnittlich hohe Investitionen in Kläranlagen, Kraftwerke und dergleichen nötig. Und auf diesem Gebiet sind deutsche Unternehmen führend. Doch Polen ist nicht nur als Absatzmarkt interessant. In den »Niedriglohnstandort«, wie der christdemokratische Politiker Volker Rühe das Land bezeichnete, sind über 20 Milliarden Euro an deutschen Direktinvestitionen geflossen.

Frankreichs Wirtschaftsbeziehungen mit Polen sind mit diesen Dimensionen nicht zu vergleichen. Es ist daher eine interessante Frage, ob Chiracs Attacke gegen Polen auch den wachsenden Einfluss Deutschlands meinte. Die deutsche und die französische Außenpolitik tritt jedenfalls so hegemonial gegenüber Polen und anderen Beitrittswilligen auf, dass beide Staaten demnächst gewiss zu Konkurrenten werden.

Die deutschen Äußerungen zum imperialen Anpruch gegenüber Osteuropa waren weniger offensichtlich als Chiracs Attacke. Ansonsten stehen sie ihr jedoch in nichts nach. Schon 1994 reagierten die Christdemokraten Karl Lamers und Wolfgang Schäuble in ihrem Kerneuropa-Papier auf die mittelfristig drohende Mitsprache neuer EU-Mitglieder aus dem Osten. Ihre Antwort lautete: Demokratisierung im Sinne von »besserer Balance zwischen dem Prinzip der grundsätzlichen Gleichwertigkeit aller Mitgliedsländer einerseits und dem der Proportionalität zwischen Stimmengewicht und Bevölkerungszahl andererseits«. In Deutschland lebt ein Fünftel der EU-Bevölkerung. In diesem Sinne verlangte auch der deutsche Außenminister Joseph Fischer Mitte 2000 ganz unverhohlen eine EU-Reform, »damit die Handlungsfähigkeit auch unter Bedingungen der Erweiterung erhalten bleibt«.

Verloren wäre damit allerdings die Vollmitgliedschaft als Lohn für Loyalität und Marktderegulierung. Deshalb haben sich Lamers wie Fischer dieselbe Lösung ausgedacht. Mit zwei verschiedenen Namen: »Kerneuropa« beziehungsweise »Gravitationszentrum«.

Was diese Pläne bedeuten, schrieb nach Chiracs Angriff die deutsche Presse von links bis rechts schon mal auf. Polen dürfe sich über Unverständnis nicht wundern, zumal es sich auf Milliardenhilfen aus Brüssel freuen dürfe, stellte beispielsweise der Kölner Express fest. Gegenüber solchen Gesellen ist Imperialismus okay, befand daher auch Rudolf Maresch im Online-Magazin telepolis: »Wer der EU beitreten möchte, der sollte den Preis vorher genau kennen. Wenn er den nicht zu zahlen bereit ist, dann sollte er lieber draußen bleiben und in Washington anklopfen.«

Das Recht auf eigene Interessen gesteht man Polen nicht zu. Wenn der Publizist Maresch von einer »eurasischen Gegenmacht« und dem »alten geopolitischen Traum« einer »Achse Paris– Berlin–Moskau« schwärmt, ist das ein spezifisch deutscher Traum. In Polen denkt man bei einer solchen eurasischen Partnerschaft an die Version einer Achse Berlin–Moskau von 1939, als Hitler und Stalin das Land unter sich aufteilten. Sechs Jahre später waren 19 Prozent der polnischen Vorkriegsbevölkerung tot.