Raus aus der Masse!

Die Proteste verhelfen Schröder und Chirac zur moralischen Rechtfertigung, im Auftrag der Weltöffentlichkeit zu handeln. Sie drohen zu einem Blitzableiter zu werden. von felix kurz

Die unmittelbar vorgefundenen Umstände, unter denen die Menschen ihre Geschichte machen, bestehen derzeit im Niedergang der Hegemonie Amerikas und in den Versuchen seiner imperialen Konkurrenten, davon politisch zu profitieren. Das heißt: Wo immer Leute gegen den Irakkrieg auf die Straße gehen, ob in London oder Berlin, Washington oder Kairo, verhelfen sie der offen gegen die USA gerichteten Achse Paris–Berlin–Moskau die moralische Rechtfertigung, im Auftrag der Weltöffentlichkeit zu handeln. Die hiesige zufriedene Rezeption der Welle friedensbewegter Proteste in aller Welt hat dies verstanden. Es ist weder Anmaßung noch Vereinnahmung, wenn Jacques Chirac und Gerhard Schröder auf dieser Welle surfen, sondern Ausdruck einer Übereinstimmung in der Sache.

Manche Kriegsgegner machen auch gar keinen Hehl daraus, der deutsch-französischen Achse den Rücken stärken zu wollen. Dass sie sich in Spanien illoyal zu ihrer eigenen Regierung verhalten, macht die Sache daher nicht zwangsläufig besser. Nicht einmal objektiv »antinational« muss der Widerstand gegen den Krieg in jenen Ländern sein, deren Regierungen einem scharfen Kriegskurs folgen. Mitunter gilt das glatte Gegenteil: In Großbritannien gehört es zum Kanon der Friedensbewegung, Tony Blair als Bush’s poodle, als unpatriotisches Schoßhündchen einer fremden Macht zu beschimpfen.

Nichtsdestotrotz haben es linke Kriegsgegner in diesen Ländern natürlich leichter als hierzulande oder in Frankreich, wo das objektive Zusammenfallen mit der Regierungslinie einigen in der Bewegung allmählich unheimlich wird. Man warnt vor illusionären Hoffnungen auf die jeweiligen Regierungen und verweist auf deren logistische Unterstützung der USA, auf die Überflugrechte etwa oder den Schutz amerikanischer Kasernen durch die Bundeswehr. Doch die Masse der Bewegung, die sich in Chirac und Schröder wiederfindet, ist besser im Bilde als jene Linken, die ihnen Heuchelei vorwerfen. Denn die punktuelle Unterstützung des amerikanischen Militärs ist nicht Ausdruck eines geschickt getarnten Willens zum Krieg, sondern folgt dem politischen Zwang, durch Zugeständnisse an die britisch-amerikanische Achse die strapazierten transatlantischen Beziehungen nicht vollends zu kappen. Selbst wenn radikale Kriegsgegner in Deutschland es dem eigenen Staat zeigen wollen und sich mit den Repressionsapparaten anlegen, beflügeln sie ungewollt dessen Aufstand gegen die amerikanische Hegemonie.

Anstatt pseudokritisch den Friedenswillen von old europe zu bezweifeln, wäre mit der viel propagierten Einsicht ernst zu machen, dass die Alternative von Krieg und Frieden eine schlechte ist. Wenige Tage bevor eine halbe Million Menschen aus Protest gegen Amerikas Krieg die Strecke zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule bevölkerte, protestierten hundert exiliranische und wenige deutsche Linke vor dem Berliner Hotel Intercontinental, in dem Vertreter des iranischen Mullah-Regimes das Jubiläum ihrer Machtergreifung feierten. Hätte nur ein Bruchteil der Kriegsgegner den Weg dorthin gefunden, wäre die deutsche Kumpanei mit den reaktionärsten Kräften im Nahen Osten als die katastrophale Alternative zum amerikanischen Krieg attackiert worden, die sie definitiv ist. Die wieder aufgeflammten Arbeiterkämpfe im Iran hätten es Linksradikalen zudem erlaubt, den Klassencharakter des Islamismus herauszuarbeiten. Jede Intervention in die hiesige Friedensbewegung, die nicht die schale Utopie des Friedens selbst angreift, wird eine Verschlimmbesserung sein.

Das Ausmaß der Antikriegsdemonstrationen in aller Welt ist erklärungsbedürftig. Die Vermutung liegt nahe, dass sie sich aus einem viel allgemeineren sozialen Unmut speisen. Darin liegt die Gefahr, dass die Friedensbewegung eine Ersatzhandlung darstellt und als Blitzableiter funktioniert. Zugleich besteht die Hoffnung, dass aus dem Nein zum Krieg auch ein Nein zum falschen Frieden wird, indem es mit dem Klassenkampf zusammenkommt. Die Weigerung italienischer Hafenarbeiter, Kriegsmaterial zu verschiffen, weist in diese Richtung. Sollten sich angesichts der weltweiten Krise des Kapitalismus die Proteste gegen den Krieg als Vorbote von etwas Besserem als einer Friedensbewegung erweisen, wäre es auch um den Frieden der Bewegung mit Schröder und Chirac geschehen.