Wir rucken gemeinsam

Eine Ansprache an die Nation. Von Gerhard Schröder und thomas blum

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Um schon zu Beginn meiner Rede all die Leerformeln unterzubringen, ohne die kein Politiker auskommt, wenn er unliebsame Neuigkeiten in Schaumsprache verpacken will, sage ich gleich am Anfang: Zukunft unseres Landes, Mut zum Frieden, Mut zur Veränderung, Mut, Frieden, Hoffnung, Mut, unser Land, Vertrauen, mehr Wachstum.

Meine Berater haben mir empfohlen, Unangenehmes möglichst so zu formulieren, dass es angenehm klingt. Ich sage also nicht: Armut und Elend werden zunehmen, jeder muss sich demnächst um sich selbst kümmern, und mit Faulenzern wird Schluss gemacht. Sondern ich sage: Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von den Einzelnen fordern müssen. Niemand wird sich entziehen dürfen. Denn das hört sich viel besser an. Weil es uns darum geht, die Reste des Sozialstaats rückstandslos zu entfernen und den Arbeitnehmern weiter Rechte zu entziehen, müssen wir wirtschafts- und sozialpolitisch beweglicher werden. So viel muss klar sein.

Wenn wir die Chefs von Europa bleiben wollen, muss Deutschland ökonomisch einen Zahn zulegen, und das geht nur mit weiterem Sozialabbau. Anders gesagt: Um unserer deutschen Verantwortung in und für Europa gerecht werden zu können, müssen wir zum Wandel im Inneren bereit sein, und zwar nicht zu knapp. Das heißt: Entweder wir modernisieren, indem wir das soziale Eiapopeia endlich ganz abschaffen und mit der Gewerkschaftsscheiße aufhören. Oder wir werden modernisiert, und zwar von den ungebremsten Kräften des Marktes, die über kurz oder lang auch das Soziale beiseite drängen. Sie haben die Wahl, am Ende läuft es sowieso auf dasselbe hinaus.

Also: Heute ist der Umbau des Sozialstaates, ist seine Erneuerung, so nennt man die Demontage des Sozialen heute, unabweisbar geworden. Meine Damen und Herren, zweifellos: wir gehören zu den stärksten Volkswirtschaften in Europa, wir sind immer noch die, die hier sagen, wo’s lang geht. Aber wir haben auch weit stärkere Belastungen zu tragen als andere. Schließlich haben wir die Ostler am Hals. Was nicht heißen soll, dass wir was gegen sie haben, warum ich jetzt betone, dass die Einheit für uns Deutsche ein großartiges Geschenk ist. Aber wir wollen eben die unbestrittenen Chefs bleiben. Und deshalb müssen wir jetzt diese Stärke abermals mobilisieren. Meine Damen und Herren, wir haben jetzt schon Krieg geführt, die Renten gekürzt, die Laufzeiten für Atomkraftwerke sichergestellt, die Unternehmer steuerlich entlastet und diverse andere soziale Grausamkeiten begangen. Wir haben aber feststellen müssen, dass diese Schritte noch immer nicht reichen. Wir haben zum Beispiel den Arbeitnehmern noch immer nicht alle Rechte entzogen, und die Arbeitsscheuen liegen uns immer noch auf der Tasche. Es kann nicht um die Durchsetzung von Einzelinteressen gehen. Damit muss Schluss sein. Das ist nicht nur unsere Meinung, sondern auch die aller anderen Parteien.

Vor allem muss erst mal der Spitzensteuersatz von 53 auf 42 Prozent sinken, denn eine dynamisch wachsende Wirtschaft ist eine der Voraussetzungen für einen guten Sozialstaat und für eine funktionierende Soziale Marktwirtschaft. Denn nur dann, wenn man die Pferde gut füttert, fällt für die Spatzen auch was ab, wie mein Amtsvorgänger schon einmal treffend bemerkt hat. Daher werden wir nicht müde werden, die staatlichen Leistungen zu kürzen. Anders ausgedrückt: Wir geben das Ziel nicht auf, dass jeder, der arbeiten kann und will, dazu auch Möglichkeiten bekommt.

Wir haben die Arbeitsmärkte für neue Formen der Beschäftigung (…) geöffnet, beispielsweise für unterbezahlte Tagelöhnerjobs, in denen man für weniger Geld mehr arbeiten muss. Wir haben die Bedingungen für die Vermittlung von Arbeitslosen verbessert, indem wir dafür gesorgt haben, dass sie bald bedingungslos zu jeder unwürdigen Tätigkeit gezwungen werden können. Und wir haben Rechte und Pflichten von Arbeitsuchenden in ein neues Gleichgewicht gebracht, indem wir erfolgreich ihre Rechte eingeschränkt und ihre Pflichten vermehrt haben. Diese Rahmenbedingungen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit werden wir abermals deutlich verbessern. Wir haben also in der Richtung noch einiges auf der Pfanne, darauf können Sie wetten.

Wir müssen auch über das System unserer Hilfen nachdenken und uns fragen: Sind unsere Hilfen wirkliche Hilfen? Muss wirklich jeder Schmarotzer und Schnorrer sich auf unsere Kosten satt fressen? Und ich akzeptiere auch nicht, dass Menschen mit der gleichen Bereitschaft zu arbeiten, Hilfen in unterschiedlicher Höhe bekommen. Deswegen werden wir Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenlegen. Und zwar einheitlich auf eine Höhe, die in der Regel dem Niveau der Sozialhilfe entspricht. Also einheitlich auf einer Höhe, die in der Regel nicht zum Leben und nicht zum Sterben reicht. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.

Denn unser Land ist nur stark geworden durch selbstbewusste Arbeitnehmer, deren Wille es ist, gemeinsam mit tüchtigen Unternehmern etwas zu leisten. Und wo es schon einen gemeinsamen Volkswillen gibt, braucht man die Gewerkschaften bald auch nicht mehr. Auch den Kündigungsschutz müssen wir (…) besser handhabbar machen, weshalb es das Beste wäre, wir schaffen ihn gleich mit ab. Überdies werden wir im Gesundheitssystem Änderungen im Interesse der Patienten durchsetzen und deshalb erst mal Leistungen streichen.

Blöd ist die ganz und gar unsinnige Diskussion, die so tut, als stünden wir vor der Alternative, den Sozialstaat abzuschaffen oder so zu erhalten, wie er ist. Wer die Frage so stellt, der hat schon verloren und nichts kapiert. Wir geben uns ja alle Mühe, ihn abzuschaffen, aber das geht nicht von heute auf morgen, meine Damen und Herren. Eins dürfte mittlerweile klar geworden sein: Immer, wenn ich Reform, Umbau, Modernisierung, Kurskorrektur, Erneuerung oder Umdenken sage, dann meine ich Kürzung, Abbau und Zerstörung.

Bestimmte Worte, das haben Sie vielleicht ja gemerkt, müssen in dieser Rede möglichst häufig wiederholt werden, damit sie langsam in Ihr Unterbewusstsein sickern und dort unbemerkt ihre Wirkung entfalten. Ein solches Wort ist gemeinsam, das ich aus gutem Grund 13mal verwende. Es hat die Funktion, gesellschaftliche Widersprüche zu negieren und Ihnen ein einheitliches nationales Kollektiv zu suggerieren, wo eigentlich divergierende Interessen … na ja, Sie wissen schon. Deshalb rede ich auch unentwegt von der Leistungsfähigkeit und Solidarität der Menschen in ganz Deutschland, den Fundamenten unseres Gemeinwesens, uns und unserem Land, gemeinsamer bzw. gemeinschaftlicher Anstrengung, Deutschlands Stärke, dieser großen nationalen Herausforderung und davon, dass alle ihren Beitrag leisten müssen usw. So erwecke ich den Eindruck, dass Sozialabbau praktisch für die gesamte Bevölkerung gleichermaßen gut und vorteilhaft ist.

Ich habe diese Rede mit den üblichen abgegriffenen Worthülsen begonnen, die Optimismus verströmen und das Volk zusammenschweißen sollten, und es hat sich bewährt, dass man auch so endet. Also: Gutes Leben in einer friedlichen und gerechten Welt, Mut zur Veränderung, Zuversicht, unser Land, Fleiß, Kreativität, Solidarität, Mut, gute Zukunft. Zukunft hab’ ich von der CDU geklaut, das haben die früher immer gesagt. So, und jetzt sage ich am Schluss noch mal einen Satz mit dem tollen Wort: Lassen Sie uns dafür gemeinsam arbeiten. Wer nicht mittut, wird schon sehen, was er davon hat. Ich danke Ihnen.