Eine Reise nach Charlottengrad

20 Jahre Stattreisen

Als 1443 der Landesherr Friedrich II. mitten in der Stadt ein Schloss als Zeichen der Unterwerfung der freien Bürger errichten wollte, fluteten die Berliner kurzerhand in einer Nacht- und Nebelaktion die Baustelle. Drei Jahre lang verzögerten sie so die Bebauung des heutigen Schlossplatzes.

Dies ist eines der vielen Beispiele vom Widerstand der »einfachen Leute« gegen die Reichen und Mächtigen in der Stadt, von denen seit 20 Jahren etwa 50 StadtführerInnen von Stattreisen e.V. auf ihren Spaziergängen durch die Metropole erzählen.

Auch auf ihren insgesamt 2 100 Rundgängen mit über 40 000 TeilnehmerInnen im vergangenen Jahr erzählten sie weniger von Königen und Prinzessinnen. Stattdessen thematisierten sie lieber auf der Tour »Tänze des Lasters« die Orte rund um den Nollendorfplatz und den Kudamm, wo vor 100 Jahren »viele Frauen einen Ausbruch aus ihren Lebensbedingungen wagten und einen künstlerischen Weg zur Freiheit suchten«.

Angefangen hatten die StadtführerInnen 1983 mit der Tour »Hallo Roter Wedding«, als der damalige Berliner Senat gerade mit einem gigantischen Flächenabriss diesen Teil der Geschichte entsorgte. »Damals bekamen wir im Weddinger Heimatmuseum Hausverbot«, erinnert sich Martin Düspohl, einer der ersten Aktivisten. »Heute kommt der Bezirksbürgermeister zu unserer Geburtstagsfeier.« Auch die grüne Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer schreibt in ihrer Laudatio zum Geburtstag, wie gerne sie seit Jahren die »BürgerInnen aus unserem Kasseler Wahlkreis« mit Stattreisen durch die Stadt schickt.

Was gestern noch subversiv war, dient heute der kritischen Begleitung der Hochkultur. So machten beispielsweise die »Wege in das jüdische Berlin« vor Jahren eine verdrängte Geschichte wieder sichtbar; heute schmückt sich die Stadt geradezu mit ihrer wieder entdeckten jüdischen Vergangenheit. So bewegt sich das Konzept, mit kleinen Gruppen durch Berlin zu laufen und die Sehenswürdigkeiten der Stadt mit den Lebensbedingungen ihrer BewohnerInnen zu verknüpfen, zwischen Unterhaltung auf hohem Niveau und politischer Bildungsarbeit.

In diesem Jahr bietet Stattreisen wieder zahlreiche Premieren an, wie etwa Touren zu den »Muslimen in Berlin« und »Charlottengrad: Russisches Leben in Berlin«. Aber auch »Rosa Luxemburgs politische und private Wege« kann man verfolgen. Die aktuellen städtebaulichen Entwicklungen bestaunen die StadtspaziergängerInnen am Potsdamer Platz unter der Überschrift »Menschen, Mythen, Mutationen« oder an der Oberbaumbrücke zwischen »Hafen, Speicher und Visionen«. Weiterhin im Programm von Stattreisen sind Klassiker wie die »Prenzlauer-Berg-Tour« und »Weltstadt Kreuzberg«.

Sogar Kinder können den Spuren von »Emil und den Detektive« folgen. Neu hinzugekommen sind in den letzten Jahren Studienreisen nach Osteuropa. Auch hier habe man inzwischen »einige Kompetenz und Professionalität« erworben, sagt Jörg Zintgraf. Die Reisen führen nach Czernowitz, Lemberg und Odessa, aber auch nach Sarajevo in Bosnien-Herzegowina.

benjamin kaminski

www.stattreisen.berlin.de