Aliens und Badezimmer

Graz ist Kulturhauptstadt 2003 und versucht die Verbindung von künstlerischen und sozialen Projekten. von julian weber

Graz im Frühling. Während die milde Sonne hinter den Hügeln versinkt, tauchen die Straßenlaternen die pittoreske Stadt in angenehm künstliches grünes Licht. Der Fluss Mur zerschneidet die Stadt in zwei Teile. Mitten im Wasser schaut eine seltsame Insel hervor. Der New Yorker Künstler Vito Acconci hat ein Schneckenhaus aus Stahl und Draht konstruiert und damit die Stadtteile jenseits des Flusses miteinander verbunden. Die Bar auf der Insel zieht viele Menschen an, es herrscht fast schon euphorische Stimmung. Im Stadtzentrum an der Mur befindet sich auch die Baustelle des Kunsthauses, das demnächst fertig gestellt ist. Ihr ovaler Umriss erinnert an eine Qualle, die auf einem Schuhkarton sitzt. Es ist ein faszinierender Fremdkörper mit Saugnäpfen im Herzen der Stadt. So niedlich war Futurismus noch nie.

Am Bauzaun künden Aufkleber von einem »friendly alien«, der gelandet sei. Graz ist »europäische Kulturhaupstadt 2003«, und man wird überall darauf aufmerksam gemacht. Die Stadt ist in 17 Kulturbezirke unterteilt. Es gibt unzählige Ausstellungen und Veranstaltungen. Auch die Diagonale, das Festival des österreichischen Films, und der Steirische Herbst, ein Forum für Kunst, Musik und Theater, stehen dieses Jahr ganz im Zeichen der »europäischen Kulturhauptstadt«. Selbst ein Krimi zum Thema Graz wurde dem Autor Wolf Haas in Auftrag gegeben: Literarisch ziemlich reizvoll, lässt er den durchgeknallten Steyermark-Kottan Kommissar Brenner in »Das ewige Leben« über mehrere hundert Seiten monologisieren, woher das Einschussloch in seiner Schläfe stammt, und wie die Blutbahnen ringsrum den Straßen seiner Heimatstadt Graz gleichen.

Vor einigen Jahren wurde die Stadt zum Weltkulturerbe erklärt, ganze Straßenzüge in Baustilen des 17. bis 19. Jahrhunderts sind erhalten und restauriert. Um so stärker heben sich die aktuellen architektonischen Projekte von den denkmalgeschützten Ensembles ab, die für Touristen so anziehend sind. »Graz 2003« sei nichts weniger als das größte Projekt in der Geschichte der Stadt, erzählt Helmut Strobl, der städtische Kulturdezernent. In einem weit verzweigten Stollensystem, das von den Nazis in den Schlossberg gegraben wurde, ist ein »Berg von Erinnerungen« installiert. Im Aufzug geht es den Berg hinauf, wo laut Helmut Strobl ein »Museum von unten« entstanden ist. Wieder ist die Perspektive verschoben. In Glaskästen, die von der Decke baumeln, haben mehrere hundert gebürtige Grazer teils sehr private Alltagsgegenstände abgegeben und mit Kommentaren versehen. Man könnte hier tagelang suchen und finden. Eine Schlafmütze von Hermes Phettberg baumelt neben Fotos, die Frauen mit Soldaten der Roten Armee beim Poussieren zeigen. Das Nirvana-Tour-T-Shirt einer gewissen Frau Posbischil ist mit der schönen Anekdote versehen, Kurt Cobain habe einst nach seinem Konzert in Graz ein paniertes Schnitzel mit Erbsenreis zu sich genommen.

»Kunst und Kultur sind notwendige Überlebensmittel für die Entwicklung der Gesellschaft«, sagt Strobl im besten Kulturdezernenten-Österreichisch. »Wenn am Ende des Jahres mehr Grazer begreifen, dass das wichtig ist, haben wir schon einen Erfolg erzielt.« Die Bevölkerungsstruktur charakterisiert Strobl als »Kontrastprogramm«. Einerseits gebe es einen hohen Anteil der Über-65jährigen, eine Art »Pensionopolis«, andererseits machen die zirka 50 000 Studenten bei einer Einwohnerzahl von 350 000 einen großen Teil der Bevölkerung aus.

Jedenfalls helfen all die Ausstellungsprojekte und Bauten auch, ein anderes Bild der Stadt zu bekommen. Kunst und Kultur hatten hier am Tor nach Südosteuropa immer einen hohen Stellenwert, aber die Regierungshauptstadt des österreichischen Bundeslandes Steyermark galt noch 2001 als Hochburg der rechtspopulistischen FPÖ. Bei den Kommunalwahlen im Januar dieses Jahres hat die FPÖ allerdings empfindlich verloren. Wohnungsbaustadtrat Ernest Kaltenegger von der Kommunistischen Partei konnte seinen Stimmenanteil auf 21 Prozent verbessern. Stimmen bekam er nicht etwa von Protestwählern. Zahlreiche Erstwähler haben für Kaltenegger gestimmt, aber auch bürgerliche Kreise und ein starkes karitatives Milieu unterstützen ihn. Der Kommunist, der auch zur katholischen Kirche einen guten Draht hat, gibt in seinem Büro im Rathaus zwischen seinen Bürgersprechstunden bereitwillig ein Interview.

»Bei Lokalpolitik geht es eigentlich um ganz banale Anliegen.« Es sei unmöglich, dass es in Graz noch immer Wohnungen ohne Bad und WC gibt. »Mir ist wichtig, dass Menschen etwas von ›Graz 2003‹ haben, die sonst nicht teilhaben am großen Kulturbetrieb.« Deshalb hat er das Projekt-Badezimmer ersonnen. In alle Substandard-Sozialwohnungen der Stadt sollen WC und Dusche eingebaut werden. Bisher sind 300 solcher »kultureller« Badezimmer entstanden. Für die Kosten kommt Kaltenegger teilweise mit seinem Privatvermögen auf. Abends in der Kneipe frage ich zwei Studenten, was sie davon halten. »Es sind neue Ideen da, und es weht auch ein anderer Wind in der Stadt, seit er Stadtrat ist«, sagt Katharina. »Die Wahl von 1998 hat viele aufgerüttelt. Dass die FPÖ hier in Graz abgestürzt ist, zeigt doch, dass sich das Klima verändert hat«, meint der 23jährige Max. Sie sind froh, dass es dank Kulturhauptstadt viele Veranstaltungen gibt, die Leute von weither in die Steiermark führen.

So auch 20 Fußballmannschaften aus der ganzen Welt, die im Juli die erste Weltmeisterschaft von Obdachlosen und Straßenzeitungsverkäufern auf dem zentralen Platz der Stadt austragen werden. Das Spielfeld liegt auf einem Steinboden. Sport habe schließlich etwas mit Stadtkultur zu tun, meint der Mitinitator Gerhard Hofbauer, ein Mitarbeiter der Caritas. Das Team Österreich besteht zu 80 Prozent aus Afrikanern, die die Straßenzeitung Megafon verkaufen. Spieler aus der Notschlafstelle sind auch dabei.

Nicht allen Offiziellen sagt der Veranstaltungskalender von »Graz 2003« zu. Für Christine Dollhofer und Constantin Wulff, die beiden Leiter der Diagonale, des Festivals des Österreichischen Films, könnte es das letzte Jahr vor Ort sein. Sie sind beim österreichischen Kulturminister Franz Morak (ÖVP), dem ehemaligen Burgtheaterschauspieler und »Punkprovokateur«, in Ungnade gefallen. Obwohl die Stadt die Arbeit der Festivalleiter ausdrücklich unterstützt, hält sich das Land Österreich merklich in der Beurteilung zurück. Laut Programmheft soll man »das österreichische Filmschaffen als komplexes Ineinandergreifen kreativer, ökonomischer und politischer Bedingungen« begreifen. Einerseits war ein Nachfolger in der Qualität von »Hundstage« nicht auf der Diagonale zu sehen. Andererseits haben es die guten Filme ohnehin schwer. Sie werden auf keinen Fall im österreichischen Staatsfernsehen ORF zu sehen sein und somit auch nicht finanziell unterstützt.

Die brillante Dokumention der belgischen Filmemacherin Natalie Borgers: »Kronenzeitung – Tag für Tag ein Boulevardstück« gewährt tiefe Einblicke, auch die politische Klasse Österreichs kommt zu Wort, weshalb bereits die Entstehung des Films von einem Rechtsanwaltsteam begleitet werden musste.

Dem ehemaligen Drehbuchautor F.W. Murnaus, dem gebürtigen Grazer Carl Mayer, hat die Diagonale eine Retrospektive gewidmet. Überall in der Stadt sind Monitore angebracht, auf denen sein zu Unrecht vergessenes Schaffen und sein trauriges Ende im Exil in London dokumentiert wird. Menschen bleiben stehen und schauen sich interessiert die Vergangenheit an.

Programm unter www.graz03.at