»Wir müssten im Irak sein«

fadela chaib ist Sprecherin der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in der jordanischen Hauptstadt Amman

Sie haben auf einer Pressekonferenz davor gewarnt, dass Verletzungen von Zivilisten als unmittelbare Folge des Krieges das Gesundheitsproblem Nummer eins im Irak sind. Wie kann das bei einem Krieg mit Präzisionswaffen passieren?

Wenn Sie in einem dicht besiedelten Stadtgebiet wie etwa in Bagdad Präzisionswaffen einsetzen, so können die gar nicht so präzise sein, dass nicht auch Zivilisten getroffen werden. All diese militärischen Objekte, die da getroffen werden sollen, stehen ja auch mitten in Wohngebieten. Sie müssen bedenken, dass die Sprengkraft dieser Raketen und Bomben enorm ist, sodass auch die Umgebung des Ziels schwer in Mitleidenschaft gezogen wird. Noch dazu können wir derzeit nichts tun, um die medizinische Versorgung der Zivilbevölkerung zu gewährleisten. Die irakischen Kollegen sind ganz auf sich allein gestellt, sie müssen praktisch ohne internationale Hilfe auskommen.

Warum gibt es keine Hilfe aus dem Ausland?

Wir sitzen hier mit 50 internationalen Kollegen im Hotel Intercontinental in Amman herum und die Sicherheitslage erlaubt es uns nicht, in den Irak zu gehen und die medizinische Versorgung zu verbessern. Die Vereinten Nationen sind derzeit in Gesprächen mit den Koalitionstruppen, um eine Einreise unseres Teams in den Irak auszuhandeln, bisher aber ohne Erfolg. Es gibt Gebiete im Irak, die seit Kriegsbeginn keinen einzigen Hilfskonvoi oder Arzt gesehen haben. Wir merken aber, dass wir dringend dort sein müssten. Und zwar jetzt.

Woran mangelt es denn bei der medizinischen Versorgung?

Man hat uns berichtet, dass es zwar noch genügend Medikamente gibt, aber die großen Krankenhäuser in Bagdad sind überfüllt und die Ärzte am Rande ihrer Leistungsfähigkeit. Derzeit werden stündlich rund 100 Verletzte in die Krankenhäuser der Stadt eingeliefert, da ist eine angemessene medizinische Versorgung unmöglich. Aber nicht nur Bagdad ist schwer betroffen. In al-Hillah, einer Stadt im Zentralirak, versucht das Krankenhaus, 280 Patienten zu versorgen, die alle bei den Kampfhandlungen verletzt worden sind. Das Hospital dort ist überfüllt. In Basra wiederum wurde das Krankenhaus teilweise zerstört. Schließlich sprechen wir hier von einer medizinischen Infrastruktur, die nach zwölf Jahren unter Sanktionen ohnehin schon schwer beschädigt ist. Das ist nicht der Irak der achtziger Jahre. Die Auswirkungen zeigen sich jetzt ganz massiv.

Wie kommt es, dass gerade in den letzten Tagen die Zahl der verletzten Zivilisten so gestiegen ist?

Weil die militärischen Eingriffe nicht mehr chirurgisch sind. Die Koalition stürmt auf Bagdad zu und nimmt sich keine Zeit mehr, um humanitäre Hilfe oder die Einrichtung so genannter humanitärer Korridore zu ermöglichen. Natürlich fallen einem solchen Sturm mehr Zivilisten zum Opfer, und der Bodenkampf, der jetzt kommt, wird diese Zahl abermals erhöhen. Wir appellieren daher dringend an beide Kriegsparteien, auf die humanitäre Lage Rücksicht zu nehmen und die Menschenrechte zu achten.

Werten Sie die Art der Kriegführung als Menschenrechtsverletzung?

Wenn Sie einer belagerten Stadt das Wasser und den Strom abdrehen, wie es jetzt in Bagdad geschehen ist und damit auch die medizinische Versorgung erheblich komplizieren, würde ich das schon als eine eindeutige Verletzung der Menschenrechte betrachten. Aber das ist meine persönliche Meinung. Außerdem müssen wir befürchten, dass es recht bald zum Ausbruch von Seuchen wie etwa Cholera kommt. Das wäre bei diesen katastrophalen hygienischen Bedingungen nicht weiter verwunderlich.

Gibt es konkrete Hinweise auf den Ausbruch von Seuchen?

Wir sitzen hier in Amman und warten, was soll ich Ihnen sagen? Nach unserem derzeitigen Erkenntnisstand ist es bisher noch nicht dazu gekommen. Wir wissen aber, dass in Basra rund die Hälfte der Einwohner noch immer ohne Wasser ist und die ersten Kinder an Diarrhoe erkrankt sind. Alleine im südlichen Irak sind rund 1,5 Millionen Menschen gänzlich von jeder Wasserversorgung abgeschnitten. Wegen des Wassermangels wird einfach Wasser aus dem Fluss genommen, und der ist schwer verschmutzt. Es wird für viele tödlich enden, wenn sie nicht sauberes Wasser und bestimmte Medikamente erhalten.

Ein Kind braucht in dieser Situation täglich neun Liter Wasser. Das ist nicht zu bewältigen, wenn kaum Hilfskonvois durchkommen. Dabei schaffen es die Konvois des Roten Kreuzes immerhin noch bis Basra, aber bis Bagdad kommt keiner durch. Noch dazu sind im Norden des Landes mittlerweile Dutzende Kinder an Masern erkrankt. Eigentlich sollte die ganze Umgebung geimpft werden, aber das geht derzeit einfach nicht wegen der riskanten Sicherheitslage. Es besteht große Gefahr, dass sich auch daraus eine Epidemie entwickelt.

Auch der Einsatz von Streubomben ist völkerrechtlich umstritten. Sind solche Bomben eingesetzt worden?

Ja, wir haben entsprechende Berichte. Streubomben sind eine tödliche Falle für Kinder, denn sie wollen mit diesen gelben Paketen gerne spielen, und außerdem sehen diese Bombenpakete tatsächlich den Lebensmittelrationen ähnlich, die von den Amerikanern in Afghanistan abgeworfen wurden. Uns ist ein Bericht bekannt, wonach erst vor wenigen Tagen vier Kinder nördlich von Bagdad ums Leben gekommen sind, weil sie mit einer solchen Bombe spielen wollten.

In der Stadt Rutpa zwischen Bagdad und Amman soll vor einigen Tagen ein Kinderhospital irrtümlich bombardiert worden sein. Haben Sie entsprechende Berichte erhalten?

Wir haben Berichte darüber, aber da ja niemand von der Uno oder der WHO dort sein kann, können wir sie nicht bestätigen.

Derzeit tobt der Kampf um Bagdad. Wie wird sich die humanitäre Situation ändern, wenn es zu einer Belagerung und zu Gefechten kommt?

Alles wird noch viel schlimmer werden, davon bin ich überzeugt. Es geht ja hier nicht um eine Schlacht in der Wüste zwischen zwei Armeen, sondern um ein Gefecht mitten im Wohngebiet von Zivilisten. Das wird auch dazu führen, dass die medizinische Infrastruktur bald vollends zusammenbricht.

interview: martin schwarz