Die Welt ist zu offen

Das Ringen um Schröders Agenda 2010 geht weiter. Die Unterstützer und die Gegner des Kanzlers geben sich nichts. von joachim rohloff

Einige Angehörige der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion, die ihres Kanzlers so genannte Agenda 2010 mit einer stehenden Ovation empfing, haben inzwischen wieder Platz genommen, ein wenig nachgedacht und sich darauf besonnen, dass die Beseitigung des Kündigungsschutzes, die Kürzung des Arbeitslosengeldes und der Sozialhilfe, die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und die Befreiung der Unternehmen vom Beitrag zum Krankengeld mit Doris ihr Mann seine Partei ihre Grundwerte schwerlich zu vereinbaren sind. Die stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Michael Müller und Gernot Erler, zugleich Sprecher der so genannten parlamentarischen Linken, legten dem Kanzler ein Papier vor, das einige Kompromissvorschläge enthält. So solle die künftige Arbeitslosenhilfe höher sein als die Sozialhilfe und danach bemessen werden, wie alt der Empfänger sei und wie viele Kinder er habe.

Franz Müntefering, der Fraktionsvorsitzende, fand lobende Worte, handele es sich doch keineswegs um ein »Alles-oder-nichts-Papier«, und auch der Generalsekretär der SPD, Olaf Scholz, will nun plötzlich mit sich reden lassen. Zugleich attackierte er jedoch die Verräter in der Fraktion, mit denen nicht zu reden sei: »Was die Vertreter der parlamentarischen Linken dort gemacht haben, ist nicht dasjenige, was einige andere für richtig befunden haben, nämlich als eine sehr kleine Minderheit zu sagen, wir wollen gar nicht diskutieren, und scheinheilig zu behaupten, man wolle noch den gleichen Kanzler, aber eine Politik zu machen, die weder mit der SPD noch mit dem Kanzler gemacht werden kann.« Gemeint waren jene zwölf Abgeordneten, die einen Mitgliederentscheid über Schröders sozialpolitische Absichten herbeiführen wollen. Dem Sonderparteitag wollen sie am 1. Juni eigene Vorschläge unterbreiten: eine höhere Verschuldung des Staates, die Wiedereinführung der Vermögenssteuer und eine geringere Senkung des Spitzensteuersatzes. Doch so etwas wird weder mit dem Kanzler zu machen sein noch mit dem Finanzminister, der bereits beteuerte, die Steuerreform in den Jahren 2004 und 2005 werde durchgeführt, wie sie geplant sei, und dann werde die Bundesrepublik die niedrigsten Einkommensteuersätze ihrer Geschichte haben.

Während Schröder also von einigen braven Linken und von einer sehr kleinen verrückten Minderheit kritisiert wird, steht ihm in der Not ausgerechnet die katholische Kirche bei. »Wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat«, sprach Christus zu den Jüngern. Und genauso, wenn auch in den Worten der modernen katholischen Soziallehre, vernahm man es nun vom Augsburger Weihbischof Losinger: »Wir müssen insgesamt sehen, wie die sozialen Sicherungssysteme in einer Weise zurückgeführt werden können, sodass das soziale Sicherungssystem insgesamt bestehen bleiben kann. Das ist nicht nur eine Zurückführung des Arbeitslosengeldes, möglicherweise sogar in Richtung auf das Sozialhilfeniveau.« Den Bedürftigen muss erst einmal genommen werden, was man den Vermögenden geben will, damit sie die Fülle haben und sich, wenn die Ertragslage es erlaubt, des Gebots der Barmherzigkeit erinnern.

Und dann, davon ist auch der Superminister Clement überzeugt, kann man endlich wieder ein Wort in den Mund nehmen, das heute fast schon lächerlich klingt: »Wir müssen bis zum Jahr 2010 Vollbeschäftigung erreicht haben. Das ist das Ziel, und das ist auch erreichbar.« Denn »Mini-Job, Midi-Job, Kleingewerbe, Leih- und Zeitarbeit, Kapital für Arbeit – all diese Instrumente können jetzt angewandt werden«. Was er selbst inzwischen von der »Ich-AG« hält, verriet er dem Spiegel: »Ich weiß noch, wie uns in Deutschland ein Schauer über den Rücken gelaufen ist, wenn wir uns vorgestellt haben, dass ein Akademiker auch mal Taxifahrer wird. Ich habe auch so gedacht. Heute weiß ich, dass es Lebensgarantien dieser Art nicht mehr geben kann. Dazu ist die Welt zu offen. Dazu ist die Konkurrenz um Arbeitsplätze und Standorte zu offen.«

Die Unternehmer werden erst zufrieden sein, wenn hoch qualifizierte Tagelöhner sich allmorgendlich vor den Werkstoren und den Bürohäusern um einen Job balgen, der sozialdemokratische Wirtschaftsminister wäre schon zufrieden, wenn er die Arbeitslosen zu Taxifahrern oder Putzfrauen machen könnte. Ihr Einkommen vergrößerte sich zwar kaum, aber die staatlichen Kassen und die Sozialversicherung wären entlastet. Es gibt allerdings einige Experten, die seine Zuversicht nicht teilen mögen. Wozu Clements grandiose Instrumente in Wahrheit taugen, erklärte Klaus Zimmermann, der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, der taz: »Die Mini-Jobs bringen gar nichts für die Arbeitslosen. Das ist eine Domäne für Hausfrauen, Schüler, Studenten und Rentner.«

Wäre der Weltfriede nicht, um den er sich verdient gemacht hat, so müssten zumindest die opponierenden Sozialdemokraten inzwischen an ihrem Kanzler zweifeln, zumal da nun der unterlegene Kandidat Edmund Stoiber und die CDU-Vorsitzende Angela Merkel ankündigten, sie wollten seine Reformen unterstützen, soweit sie »vernünftig« seien.

Von den Grünen hört man derweil wenig. Vermutlich sind sie der Meinung, das Dosenpfand sei schon mehr Sozialpolitik gewesen, als man in einer Legislaturperiode von ihnen erwarten darf. Die Bundestagsfraktion stimmte jedenfalls den Vorschlägen des Kanzlers zu, und eine ihrer Vorsitzenden, Katrin Göring-Eckardt, übte sich im entsprechenden Jargon. Der Staat dürfe nicht weiter Geld dafür ausgeben, dass Menschen vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen blieben. Doch die Basis verlangte eine außerordentliche Bundesdelegiertenkonferenz, die zum Unwillen der Notvorsitzenden Angelika Beer tatsächlich am 14. und 15. Juni in Cottbus stattfinden wird. Danach gilt, was neulich ein führender grüner Politiker aussprach: »Selbstverständlich sind die Beschlüsse der Partei bindend. Aber das heißt ja nicht, dass sie auch eins zu eins umgesetzt werden.«

In der vergangenen Woche meldeten sich auch drei ehemalige sozialdemokratische Ministerpräsidenten bei verschiedenen Zeitungen, weil sie sich um den Zustand ihrer Partei sorgen. Oskar Lafontaine ließ von Bild verbreiten, er unterstütze das Mitgliederbegehren. »Der SPD laufen die Wähler und Mitglieder davon, daher ist ein Kurswechsel dringend erforderlich.« Sigmar Gabriel sagte der Berliner Zeitung, die Initiatoren des Mitgliederbegehrens ignorierten vollständig den Reformdruck, um tags darauf der Parteiführung vorzuwerfen, sie folge, genauso wie ihre Kritiker, einer »Kamikaze-Strategie«. Und Björn Engholm gab im Flensburger Tageblatt zu bedenken, die Sozialpolitik der Bundesregierung sei nicht ausgewogen, und die Parteiführung beschränke sich auf bloßes »Erscheinungsmanagement«. Es fehle das »nach außen erkennbare Herzblut«.

Es wird also einen Sonderparteitag und mehrere Regionalkonferenzen geben, auf denen der Vorsitzende seine Basis ins Gebet nehmen und überreden oder erpressen wird, und womöglich ein Begehren der Mitglieder. Am Ende wird Peter Glotz, ehemaliger Geschäftsführer der SPD und ein Modernisierer seit jeher, der neuerdings an der Universität in St. Gallen die Wissenschaft des Kommunikationsmarketing lehrt, mit seiner Prognose richtig liegen: »Die werden an der einen oder anderen Stelle, dem einen oder anderen Detail sagen, das darf nicht sein, werden aber insgesamt dem Programm und dem Bundeskanzler das Vertrauen aussprechen, sodass die Regierung dann freie Hand hat, das zu machen was sie im Prinzip machen will und für richtig hält.«