Die Rückkehr der Imame

Nach langen Jahren im Untergrund reorganisieren sich die schiitischen Islamisten im Irak. Auch der Iran hofft, mit ihrer Hilfe die Nachkriegsordnung beeinflussen zu können. von florian bernhardt, amman

Zählen konnte niemand die Menge, die sich in der vergangenen Woche im irakischen Kerbala versammelt hatte. Zwei Millionen Menschen sollen sich an den schiitischen Trauerprozessionen zum Gedenken an den im Jahr 680 getöteten Imam Hussein beteiligt haben. Die Feierlichkeiten hatten 1977 zum letzten Mal in dieser Form stattgefunden. Damals waren zahlreiche Pilger auf ihrem Weg nach Kerbala von den irakischen Sicherheitskräften getötet worden.

Verschiedene islamistische Organisationen wie der Oberste Rat für die Islamische Revolution im Irak (Sciri) und die Partei des Islamischen Rufs (Hizb al-Dawa al-Islamiya) haben die Feiern für ihre eigenen Zwecke benutzt und die Gläubigen zu friedlichen Protesten gegen die Besetzung ihres Landes durch die USA aufgerufen. Deren Truppen hatten das Stadtgebiet geräumt, um Konfrontationen zu vermeiden.

Wie schon bei den Demonstrationen der Tage zuvor, die sich gegen den von den USA unterstützten Irakischen Nationalkongress (INC) von Ahmed Chalabi richteten, war eine Parole besonders oft zu sehen: »Unsere Hawza ist unsere Führung.« Mit ihrer Forderung nach einer Führungsposition der Hawza, der theologischen Hochschulen der schiitischen Geistlichkeit, haben die Demonstranten eine alte Forderung der irakischen islamistischen Bewegung aufgegriffen.

Im Westen weitgehend unbekannt, kann die islamistische Bewegung im Irak auf eine lange Tradition zurückblicken. Die Städte Najaf und Kerbala, in denen sich die Grabstätten von zwei schiitischen Imamen befinden, sind seit Jahrhunderten Sitz der wichtigsten Zentren traditioneller schiitischer Gelehrsamkeit. Die theologischen Hochschulen Najafs hatten bereits seit dem 19. Jahrhundert großen Einfluss weit über die Grenzen des heutigen Irak hinaus und spielten nicht zuletzt beim Aufstand der schiitischen Stämme im Irak gegen die britische Besatzung im Jahr 1920 eine wichtige Rolle.

Infolge der Ausweitung des staatlichen Schulsystems, dessen Absolvierung als Vorraussetzung für sozialen Aufstieg galt, hatten die theologischen Hochschulen jedoch seit den dreißiger Jahren mit sinkenden Schülerzahlen zu kämpfen. Das Prestige und die finanziellen Ressourcen der schiitischen Geistlichkeit schwanden. Der Aufstieg der kommunistischen Partei, die sich zur stärksten KP der Region entwickelte, gab den schiitischen Ulama weiteren Anlass zur Besorgnis. Mit Hilfe der Verbreitung eines »korrekten« islamischen Bewusstseins versuchten sie, die Säkularisierung des Staates zu bekämpfen, die »kommunistische Flut«, wie sie in ihren frühen Veröffentlichungen genannt wurde, zu stoppen und den politischen und gesellschaftlichen Einfluß der Religionsgelehrten wiederherzustellen.

Im Jahr 1958 entstand an der Hawza von Najaf aus einer Vielzahl kleiner Gruppen die älteste und wahrscheinlich größte schiitisch-islamistische Partei des Irak, die Hizb al-Dawa. In den sechziger Jahren übernahm eine neue Generation von Akademikern und Studenten die bis dahin von Klerikern dominierte Partei und öffnete sie mit Erfolg auch für größere Bevölkerungsschichten.

Bei ihren Bemühungen zur »Islamisierung« der Gesellschaft kamen die Dawa und andere Gruppen aber mehr und mehr in Konflikt mit dem damals noch säkular orientierten Ba’ath- Regime, das sich 1968 an die Macht geputscht hatte. Inspiriert von der iranischen Revolution wagten die Islamisten schließlich 1979 die offene Machtprobe. Sie mussten aber erkennen, dass sie ihren Einfluss in der Bevölkerung überschätzt und die Bereitschaft Saddam Husseins, rücksichtslos Gewalt anzuwenden, unterschätzt hatten. Tausende wurden verhaftet, viele hingerichtet, unter ihnen der gesellschaftlich und politisch aktive Ayatollah Muhammad Baqir al-Sadr, der zu den Gründungsmitgliedern der Dawa gehörte. Allein die Mitgliedschaft in der Partei wurde seitdem per Gesetz mit der Todesstrafe geahndet.

Seit dieser Zeit konnte die Bewegung ihre alte gesellschaftliche Bedeutung im Irak nicht mehr wiedererlangen. Sie war jedoch weiterhin in der Lage, Terroranschläge auf irakische Einrichtungen im Ausland und spektakuläre Guerillaaktionen im Irak durchzuführen. Ein neues Betätigungsfeld fand die Dawa unter den hunderttausenden irakischen Flüchtlingen im Iran und in Syrien. Anders als der 1980 unter iranischer Patronage gegründete Sciri bewahrte sich die Dawa immer eine relative Unabhängigkeit vom Iran und seinen Interessen. Während der Sciri im ersten Golfkrieg seine Hoffnungen vor allem auf einen Sieg der iranischen Armee setzte, bemühte sich die Dawa um Kontakte zu anderen irakischen Oppositionsgruppen, bis hin zu den Kommunisten, um so eine gemeinsame Basis für das Vorgehen gegen das Ba’ath-Regime zu finden.

Auch die ideologische Ausrichtung der Dawa hat sich im Lauf der Zeit gewandelt. Während die Partei ursprünglich verschiedene diffuse Modelle »islamischer Demokratie« und die Einführung der Sharia propagierte, orientierte sie sich Ende der siebziger Jahre mehrheitlich an Khomeinis Konzept der »Herrschaft der Rechtsgelehrten«, wie es 1979 nach der Revolution im Iran eingeführt wurde.

Einen weiteren Schwenk vollzog die Partei nach dem zweiten Golfkrieg. Das im Jahr 1992 vom Londoner Zweig der Dawa herausgegebene Programm entstand kurz vor dem ersten Zusammentreten des INC und liest sich wie das Manifest einer bürgerlich-liberalen Partei. Offensichtlich zielte es auf einen möglichst großen Konsens unter den neuen Verbündeten. Bereits 1993 kündigte die Dawa aber ihre Zusammenarbeit mit dem INC wieder auf. Die verschiedenen taktischen und ideologischen Kurswechsel wurden nicht von allen Parteimitgliedern vollzogen. Immer wieder kam es zu Abspaltungen kleinerer Gruppen.

Genauso wie der Sciri und eine Handvoll kleiner Gruppen hofft nun auch die Dawa, das Machtvakuum zu füllen, welches der Sturz des irakischen Regimes hinterlassen hat. Die Umbenennung des Bagdader Stadtteils Madinat Saddam in Madinat al-Sadr zeigt, dass das Andenken des 1980 hingerichteten Ayatollah noch lebendig ist. Die islamistischen Parteien sind jedoch ebenso wie die schiitische Geistlichkeit durch politische Rivalitäten und persönliche Fehden zerstritten. Welche Kräfte sich schließlich durchsetzen werden, ist noch nicht abzusehen.

Die Auseinandersetzungen haben längst auch die Hawza selbst erfasst. Großayatollah Ali Sistani, eine der höchsten religiösen Autoritäten der Schiiten, wurde von radikalen Kräften in seinem Haus belagert, und der als »prowestlich« geltende Majid al-Khui, der erst vor kurzem aus seinem Londoner Exil zurückgekehrt war, kam bei einem Handgemenge im Schrein des Imam Ali in Najaf ums Leben.

Der Sciri, der das erste Treffen zur Bildung einer Übergangsregierung unter der Regie der USA boykottierte, strebt nach den Worten seines Vorsitzenden Bakir al-Hakim keine »Kopie« der iranischen Revolution an und ist bereit, »mit allen Seiten und Kräften zu kooperieren«. Dennoch fürchtet die US-Regierung den schiitischen Islamismus und den Einfluss des Iran. Dieser dürfte in der Zukunft noch zunehmen, wenn tausende schiitische Geistliche sich aus dem Exil auf den Rückweg in den Irak machen, um sich an der Auseinandersetzung um die Zukunft ihres Landes zu beteiligen.