Eine Reise in die schmerzliche Wahrheit

Phillip Noyce setzt mit »Long Walk Home« auf engagiertes Polit-Kino. Und arbeitet ein dunkles Kapitel australischer Geschichte auf. von ulrike mattern

Auch in Australien übernimmt Hollywood zunehmend die Vorherrschaft in den Kinosälen. Im Jahre 2002 starteten 258 Filme, darunter waren gerade mal 22 einheimische Produktionen. Eine »David und Goliath Story« nennt Kim Dalton von der Australian Film Commission dieses ungleiche Kräfteverhältnis.

Doch David ist wendig. Als nun das Australian Film Institute im Dezember 2002 die AFI Awards verlieh, tauchten unter den unterschiedlichen Nominierungen vier Filme immer wieder auf: »Australian Rules« von Paul Goldman, »Beneath Clouds« von Ivan Sen, »The Tracker« von Rolf de Heer und »Rabbit-Proof Fence« von Phillip Noyce. Vier Filme, die im Abstand weniger Wochen in Australien gestartet waren und sich mit politischen Themen beschäftigen: Verfolgung und Widerstand, Rassismus und Menschenrechte, Versöhnung zwischen Aborigines und weißen Australiern. Ein Film, »Rabbit-Proof Fence«, fand besonders großen Zuspruch beim Publikum und löste eine Kontroverse über ein verdrängtes Kapitel in der australischen Geschichte aus.

Diese Woche startet er unter dem Titel »Long Walk Home« in den deutschen Kinos und widerlegt vielleicht die These, dass ein politischer Film kein kommerzielles Potenzial habe. Das Drama geht zu Herzen: Drei kleine Mädchen werden von ihren Müttern getrennt und in ein Heim verschleppt. Sie fliehen und machen sich auf ihren langen Weg zurück nach Hause.

Hintergrund der Story ist eine wahre Geschichte. Die Flucht der drei acht- bis 14-jährigen Aborigine-Mädchen schildert Doris Pilkington in ihrem jetzt auf Deutsch vorliegenden Buch »Long Walk Home«. Molly, die Mutter der Autorin, sowie ihre Schwestern Daisy und Grace wurden in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts tatsächlich von ihren Familien getrennt und verschleppt.

Mehr als 60 Jahre mussten vergehen, bis Australien sich mit diesem dunklen Teil seiner Geschichte auseinandersetzte. 1997 veröffentliche die Kommission für Menschenrechte und Gleichberechtigung die Studie »Bringing Them Home«. Von 1910 bis 1970 hatten die Behörden Aborigine-Kinder aus Mischehen, so genannte »half-caste«, von ihren Müttern getrennt und in Heime deportiert. Ziel des staatlich legitimierten Kindsraubes war die Anpassung an die Kultur der weißen Australier. »Man ging damals allgemein davon aus, dass Kinder aus Mischehen intelligenter seien als reine Aborigines und man sie deshalb separieren und zu Dienstboten und Arbeitern ausbilden sollte«, schreibt Doris Pilkington in »Long Walk Home«. In dem Bericht der Kommission wird geschätzt, dass rund 100 000 Kinder und jede Aborigine-Familie von diesen Maßnahmen betroffen waren. Die Opfer dieser rassistischen Politik nennt man heute »Stolen Generations«.

»What if the government kidnapped your daughter?« Hollywood weiß, wie man Aufmerksamkeit erregt. Als der amerikanische Verleih Miramax »Long Walk Home« im letzten Jahr auf dem Filmfestival in Cannes mit dieser Schlagzeile lancierte, zeigte sich die australische Regierung verärgert. Vielleicht plagte das schlechte Gewissen. Denn seit ihrem Amtsantritt 1996 bremst die liberal-konservative Koalition unter Premierminister John Howard den Prozess der Versöhnung und verzögert die finanzielle Entschädigung der Opfer als Teil der Wiedergutmachung.

Eine wahre Geschichte, ein gutes Drehbuch, eine politische Debatte und ein gezieltes Marketing – der australische Regisseur Phillip Noyce zog alle Register, um das Interesse der Öffentlichkeit für seinen Film und das Thema der »Stolen Generations« zu wecken. Dabei stand der 53-Jährige nach zwölf Jahren in Hollywood und einer Reihe von Action-Filmen wie »Die Stunde der Patrioten« und »Das Kartell« mit Harrison Ford oder »Der Knochenjäger« mit Angelina Jolie nicht gerade unter Arthouse-Verdacht.

Mit »Long Walk Home« und der in der letzten Woche gestarteten Graham-Greene-Verfilmung »Der Stille Amerikaner« kehrt Noyce jedoch zu seinen Wurzeln zurück. Ob Legende oder Wahrheit, im Interview nach dem Grund für seine Abkehr vom Mainstream-Kino gefragt, gibt der Australier eine gewisse Übersättigung zu und vergleicht seinen Aufenthalt in Hollywood mit dem eines Kindes im Bonbongeschäft, das zu viel Süßes genascht hat.

Phillip Noyce schleckt seine Süßigkeiten jetzt lieber in Australien. Die drei Aborigine-Mädchen, Amateurschauspielerinnen, die in einem aufwändigen Casting im ganzen Land ausgesucht wurden, sind niedliche Sympathieträger. In der flirrenden Hitze der staubigen Wüste übernimmt die Älteste die Verantwortung für die beiden jüngeren Mädchen während ihrer langen Odysee. Wer bei der Flucht über 1 500 Meilen durch das Outback bis nach Hause kein Mitleid mit diesen Kindern empfindet, zieht auch Katzen am Schwanz.

Die Kamera von Christopher Doyle, bekannt durch seine Arbeiten für Wong Kar-Wai, zieht immer wieder die Linien der ockerfarbenen Landschaft nach, die Filmmusik von Peter Gabriel verstärkt die Spiritualität, die von ihr ausgeht. Die Bürokraten, an vorderster Front der Schutzbeauftragte für die Aborigenes, A. O. Neville, dargestellt von Kenneth Branagh, werden meist aus einer Kameraeinstellung von unten, aus der Schrägen aufgenommen, was die Personen bis an die Grenze zur Parodie verzerrt. Der Film ergreift Partei, und der Zuschauer folgt ihm bereitwillig auf einer emotionalen Reise.

Seit den fünfziger Jahren scheiterte jeder Film, der eine Geschichte über die Ureinwohner Australiens erzählte, an den Kinokassen. »Die Mainstream-Kultur Australiens hatte die Erfahrung dieser Menschen völlig abgelehnt. Nun können sie sagen: Siehst du. Es ist wirklich geschehen. Weil es im Film zu sehen ist. Von einem weißen Mann aus Hollywood gedreht. Es muss wahr sein.« So Phillip Noyce, der die Debatte über die »Stolen Generations« endlich in die Multiplexe dieser Welt getragen hat.

Long Walk Home. R: Phillip Noyce, Australien, Start: 29. Mai