Niemals Nibelungen

Zum Tod des Literaturwissenschaftlers und Dichters Walter Höllerer. Ein Nachruf von peter o. chotjewitz

Eines Tages gelang es Krause, mir einige seiner Gedichte zu zeigen. Es war Spätherbst, 1958, und wir verbrachten viel Zeit mit Büro- und Lagerarbeiten für eine amerikanische Company. Krauses Texte erinnerten mich entfernt an die hermetischen Poeme, die Ungaretti vierzig Jahre zuvor geschrieben hatte. Natürlich war Ungaretti unentbehrlich für den Gefühlshaushalt eines angehenden Dichters der fünfziger Jahre, aber ihn nachzuahmen war degoutant. Ich reichte Krause also seine Gedichte mit spitzen Fingern zurück und kontrollierte wieder die Kontoauszüge von Mr. Wannemaker.

Er studierte angeblich bei Höllerer, der seine Gedichte bereits gelobt habe, behauptete Krause. Es bestätigte meine Vorurteile über die Germanisten, die ich Margarete verdankte, die von ihrer ganzen Familie »Mompti« genannt wurde. Ich hatte sie angebetet, bis sie mir kategorisch mitteilte, dass sie als Jungfrau in die Ehe gehen werde. Germanisten waren sinnenfeindliche Langweiler, die Lodenmäntel trugen, ihre Zeit mit dem Nibelungenlied vergeudeten und alberne Fragen stellten.

Höllerer sprach nie über die Nibelungen. Er war das schwarze Schaf der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität. Bei Adorno saßen die schöneren Frauen, bei Höllerer die interessanteren Männer. Mit Adorno saß man im Universitätscafè, das im existenzialistischen Stil gehalten war (der Grundton war, glaube ich, schwarz). Höllerers Privatissima fanden in seinen verzweigten Mansardenwohnungen statt.

Die Leute, die sich dort trafen, kannte ich zum Teil durch die Studentenzeitung Diskus – Hermann Peter Piwitt, Wolfgang Maier, Ror Wolf. Ich wüsste heute keine Zeitung mit einem derart anspruchsvollen Literaturteil, wie der Diskus ihn damals hatte.

Die Anregungen, die im Kreis um Höllerer ausgegeben wurden, lassen sich jahrzehntelang verfolgen, man denke an die Liebe zur Operette bei Volker Klotz. Oder, anderes Beispiel, Karl Riha, auch er ein Diskus-Mann, der später an der Uni Siegen die legendäre Reihe »Vergessene Autoren der Moderne« auflegte und damit ein Konzept Höllerers fortsetzte.

Höllerers Konzepte waren vielleicht in den Methoden germanistisch – nicht in den Gegenständen: das Interesse an Trivialliteratur, der Rückgriff auf die Begründer der literarischen Moderne, die Freude am literarischen Experiment, die Kühle und Distanz zum Gegenstand, das Bukolische. Vor allem sein Lachen. Es war sein Markenzeichen, der erste Ausdruck seines offenen Denkens, ein untrügliches Signal: »Höllerer ist schon da!«

Ror Wolf hat anhand seines Studienbuches Höllerers Themen in Frankfurt rekonstruiert: Büchner, Grabbe, Robert Walser, Döblin, Benn, Schwitters, Einstein. Vor fast fünfzig Jahren war das nicht Kanon in der Uni-Germanistik. Klaus Völker beschreibt ihn als Anreger für das Studententheater – die frühen Stücke von Grass, den noch keiner kannte.

1960 erschien »Movens«, herausgegeben von Franz Mon in Zusammenarbeit mit Walter Höllerer und Manfred de la Motte, von Max Bense zwar kritisiert, jedoch wohlwollend. Ich will nicht sagen, dass die Vernetzung von Musik, bildender Kunst, Theater und Literatur, die für die Neo-Avantgarde seit den späten 50er Jahren typisch war und für einen enormen experimentellen Schub sorgte, auf Initiative Höllerers erfolgte. Seine Mitarbeit an »Movens« zeigt aber, dass er bereit war, die Zeitzeichen in kreative Prozesse einzubeziehen – ganz im Gegensatz zu den meisten seiner Generation, die in der »Gruppe 47« zum Beispiel eher einfältige literarische Produkte einer gefälligen Saturierungsästhetik abfeierten.

Höllerer war, das machte ihn so einzigartig, von Anfang an immer auch und vielleicht sogar in erster Linie ein kreativer Autor, der Erfolg nicht an Auflagen maß und wusste, dass man Literatur nicht popularisieren kann. Nicht dass die Leute lesen, ist entscheidend, sondern was sie lesen.

Seine Gedichte, die er seit Anfang der fünfziger Jahre veröffentlichte, sind Bausteine einer Weltsprache der Poesie und fanden in der deutschen Literatur hochrangige Anhänger. Den jungen Enzensberger hätte es ohne ihn wohl ebensowenig gegeben wie dessen »Museum der modernen Poesie«. Er hat etliche mit angeschoben, auch Martin Walser.

Was zum geheimen Erfolg des jungen Höllerer beitrug, war, neben seiner Professur und seiner Beratertätigkeit (u.a. für Suhrkamp 1954–59), sein publizistischer Wagemut. Schon die Titel seiner Zeitschriften waren Programm: »Sprache im technischen Zeitalter«, »Akzente«. In einer Branche, in der es heute noch als Qualitätsmerkmal gilt, den Rechner zu verachten und mit der Hand, möglichst mit Bleistift zu schreiben, die Interdependenzen zwischen zwei Kulturphänomenen zu analysieren, die damals noch als unvereinbar galten – Kunst und Technik –, war irgendwie unverfroren.

In Westberlin, das nicht erst seit dem Mauerbau 1961 am Muff einer abderitischen Boheme litt, war Höllerer ein stets belebender Initiator. Durch Höllerers Initiativen kam die literarische Welt nach Westberlin: Gombrowicz und Butor, Pasolini und Creeley, Artmann und Sanguinetti, das »Living Theatre« und das lange Gedicht. Jandl spottete damals:

»Zur Hölle mit dem kurzen Gedicht. Mit dem langen zu Höllerer!«

Es gab ja nicht nur die zwei legendären Schreibschulen für Prosa und Theater in den Jahren 1963/64, wo Kipphardt, Rühmkorf u.a. »unterrichteten«. Es gab zahllose Vorträge, Bloch, Andersch, Martin Ensslin (Beckett und Brecht), und es gab eine beachtliche Außenwirkung. Grass verkündete lautstark wie je, dass man das Schreiben nicht lehren könne (was ihn nicht hinderte, auch auf dieser Hochzeit mitzutanzen), und Reich-Ranicki, der schon damals keine Ahnung von Literatur hatte, diffamierte uns alle in Bausch und Boden als die »Berliner Manieristen«.

Das nutzte mehr, als es ärgerte. Ein Jungautor, der in Westberlin bei Höllerer war, konnte zumindest mit Aufmerksamkeit rechnen – bei den guten Verlagen, in den Literaturredaktionen – und erhielt ein Ticket der »Gruppe 47«, wo er freilich auf die geballte Ignoranz der literarischen Buchhalter stieß, zu denen leider auch unser Nobelpreisträger gehörte, der gnadenlos alles abbügelte, was eigensinnig klang. Da konnte auch Höllerer nichts ausrichten.

Für mich war er ein Segen. Nicht nur, weil ich 1964 an seinem Dramatikerkolleg teilnehmen durfte. Ich wollte seit Anfang der fünfziger Jahre Prosa schreiben, fand aber keine Lösung für meine Probleme mit der Struktur der Erzählung, der Dramaturgie, der sprachlichen Stilebenen etc. Ich wusste nur, wie ich nicht schreiben wollte: Nicht straight von A bis Z eine Story runterspulen, nicht unterhaltsam, leicht verständlich. Kunst muss Arbeit machen und anstrengend sein. Eine Sendung, in der Bücher mit dem Argument angepriesen werden, sie seien leicht verständlich und handelten von Gegenständen, die jeder kennt, würde ich als Programmdirektor ablehnen. Warum gibt es Fitness-Zentren für Bauch und Bizeps, nicht aber für das Gehirn?

Was Höllerer empfahl, leuchtete mir auf Anhieb ein: Seine Vorliebe für das Verschlungene, sich Überlagernde, das Fragmentarische, die Labyrinthe, die immer neuen Anfänge, das Disparate im Zusammenprall, das Unfertige, Schmutzige, nicht Gehobelte und dennoch in Jahrzehnten gründlich Durchdachte.

Es leuchtet ein: Millionär geworden oder auch nur berühmt ist keiner aus seiner Dichterschule. Folgendes schreibe ich ihm hiermit ins Stammbuch, das er mit ins Grab nimmt:

Ich wär so gern im Pleistozän geboren / Mit kleinem Kopf und großem Rumpf als Drache / Ich hätte hier am Schreibtisch nichts verloren / Der Himmel tät sich färben, wenn ich lache / Ich hinterließe Spuren, wo ich lebte / Ein jeder hörte mich, die Erde bebte / Man spräche von mir bis ins Eisenalter / Doch bin ich nur ein kleiner Wortekacker / Die Sprache ist mein ausgelaugter Acker / Und das verdank ich dir, mein lieber Walter.