Es war doch Krieg

In der kommenden Woche wird eine Klage von Überlebenden des SS-Massakers in Distomo vom Bundesgerichtshof in Karlsruhe verhandelt. von lars reissmann

Mehr als 55 Jahre nach Kriegsende bleibt für zusätzliche Forderungen aus der Vergangenheit kein Raum.« So drückte die rot-grüne Bundesregierung im Jahr 2001 ihre Einstellung zu den Entschädigungsforderungen der Opfer des Massakers von Distomo aus. Argyris Sfountouris, ein Überlebender des Massakers, das sich am 10. Juni zum 59. Mal jährt, klagt seit 1995 zusammen mit seinen drei Schwestern gegen die Bundesrepublik Deutschland auf Entschädigung. Nach dem Abschluss des Zwei-plus-vier-Vertrags im Jahr 1990 hatten Opfer des Nationalsozialismus, wie die Geschwister Sfountouris, erstmals nach 45 Jahren die Möglichkeit, ihre Forderungen an die Bundesrepublik zu stellen. Denn das Londoner Schuldenabkommen aus dem Jahr 1953 hatte einen Aufschub aller Ansprüche bis zur Unterzeichnung eines Friedensvertrages bewirkt.

Sfountouris betont, dass den Opfern zwar die Möglichkeit zur Klage genommen wurde. Doch habe das Abkommen es der Bundesrepublik »durchaus nicht verboten, von sich aus als Nachfolgerin des Täterstaates diese Schulden aus der Welt zu schaffen«. Die Bundesregierung machte jedoch auch nach dem Abschluss des Zwei-Plus-Vier-Vertrags unmissverständlich klar, dass sie auch heute nicht an so etwas denkt.

Sie weigert sich, dieses Übereinkommen als Friedenvertrag zu akzeptieren, als das es ohne Zweifel völkerrechtlich zu bewerten ist. In einem Brief der Bundesregierung unter Helmut Kohl aus dem Jahr 1995 wird das Massaker von Distomo nicht als Verbrechen bezeichnet, sondern als »Maßnahme im Rahmen der Kriegsführung«.

Sfountouris nennt das die Distomo-Lüge. Denn am 10. Juni 1944 ermordete eine SS-Einheit insgesamt 218 Menschen, vor allem Kinder, Frauen und alte Menschen, ja sogar Säuglinge auf bestialische Weise, darunter auch Sfountouris’ Eltern. Die Nazis brannten viele Häuser des Ortes nieder, das der Eltern Sfountouris’ ebenso wie ihr Geschäft. Sfountouris blieb schließlich nur der Weg der Klage, um eine Einstufung des Massakers als Verbrechen zu erwirken und eine Entschädigung zu erhalten.

Die Klage vor dem Landgericht Bonn war schon in Vorbereitung, als im Sommer 1995 auf Initiative des Rechtsanwalts Iannis Stamoulis eine Sammelklage von Überlebenden und Hinterbliebenen des Massakers beim Landgericht im griechischen Livadia eingereicht wurde. Die Geschwister Sfountouris hielten aber trotzdem auch an ihrer Klage vor einem deutschen Gericht fest.

Denn zum einen war absehbar, dass die Bundesrepublik sich angesichts einer Klage vor einem griechischen Gericht auf die Staatenimmunität berufen würde, um sich der Verantwortung zu entziehen. Zum anderen konnte es wegen der deutsch-griechischen Beziehungen »irgendwann einen Dreh geben, dass man die Klagen in Griechenland abwimmelt, oder die Gerichte unter Druck gesetzt werden, sie abzuweisen«, vermutete Sfountouris und traf den Kern der Sache, auch wenn das letzte Urteil noch nicht gesprochen ist.

Vom Landgericht Livadia wurde Deutschland dann 1997 wegen des Massakers von Distomo zu einer Entschädigung von 28 Millionen Euro verurteilt. Diese Entscheidung wurde im April 2000 vom obersten Gerichtshof Griechenlands, dem Areopag, mit einer überraschend klaren Mehrheit bestätigt. Erst als Stamoulis die Pfändung deutscher Liegenschaften in Griechenland beantragte, u.a. des Goethe-Instituts, unterband die griechische Regierung die Zwangsvollstreckung (Jungle World, 37/01). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strasbourg beurteilte zwar Ende vergangenen Jahres das Vorgehen der griechischen Regierung als rechtens, ließ aber auch keinen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Areopag-Urteils aufkommen.

Die Initiative Stamoulis’ zog bis heute etwa 50 000 Einzelklagen wegen NS-Verbrechen vor griechischen Gerichten nach sich. Um diese Prozesse zu stoppen, wurde ein Sondergerichtshof einberufen. Dies sei »keine rein juristische Angelegenheit« gewesen, kritisiert Sfountouris, sondern »auf Druck der Regierung« erfolgt. Die Sonderinstanz gab im September 2002 der deutschen Seite hinsichtlich der Staatenimmunität Recht. Die Sache wurde an den Areopag zurückverwiesen, die endgültige Entscheidung steht noch aus.

Das Verfahren der Geschwister Sfountouris liegt nun schon seit einigen Jahren beim Bundesgerichtshof. 1997 wurde die Klage vom Landgericht Bonn abgewiesen, die Berufung 1998 vom Oberlandesgericht Köln. Beide Instanzen sahen die Forderungen nicht als individuell einklagbar an. Sie könnten nur im Zuge zwischenstaatlicher Reparation geltend gemacht werden, urteilten die Richter.

Außerdem wurde das Massaker wieder als Teil des Kriegsgeschehens aufgefasst. Das Oberlandesgericht Köln stellte aber immerhin fest, dass das Massaker der SS-Einheit ein eklatanter Verstoß gegen das Kriegsvölkerrecht gewesen sei und die Bundesrepublik als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches grundsätzlich für diese Taten hafte.

Als Voraussetzung für eine Entschädigung und eine Verfolgung der Täter muss die Tat als Verbrechen eingestuft werden. Von der deutschen Justiz und auch der deutschen Gesellschaft sei dies kurz nach dem Krieg wegen ihrer Nähe zum Nationalsozialismus wohl kaum zu erwarten gewesen, sagt Sfountouris. »Warum es aber auch nach über fünfzig Jahren nicht geschieht, begriff ich erst, als ich bei einem Besuch des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald auf die Nazi-Losung stieß: ›Reue ist undeutsch.‹ Diese Losung schrie mir förmlich entgegen.«

Sfountouris wird am kommenden Samstag auf dem Hearing in Mittenwald anlässlich des Treffens der Gebirgsjäger sprechen. Bei den dortigen Gegenveranstaltungen soll es in diesem Jahr auch um die unterbliebene Strafverfolgung von NS-Tätern und die Entschädigungsforderungen von griechischen und italienischen NS-Opfern gehen. Und anlässlich der Verhandlung über die Klage im Fall Distomo wird vor dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe eine Solidaritätskundgebung organisiert.

12. Juni, Karlsruhe, 8 Uhr, Kundgebung vor dem Bundesgerichtshof, Herrenstraße 45

9 Uhr, Verhandlungsbeginn Sfountouris u.a. gegen die Bundesrepublik Deutschland, Saal W 311