Der Aufruhr von nebenan

In mehreren eurpäischen Ländern wurde in den vergangenen Wochen gegen geplanten Rentenreformen protestiert. In Frankreich beweist man die größte Ausdauer. von bernhard schmid, paris

Sie kamen zu Pferd und mit gehörnten Gallierhelmen: die streikenden Archäologen. Auch sie nehmen derzeit am Ausstand vieler Berufsgruppen teil. Mit ihren historischen Kostümen waren sie die Publikumsattraktion der Pariser Demonstration am Dienstag vergangener Woche. Sie protestierten gegen die Reform der Rentensysteme, daneben haben sie aber, wie andere Berufsgruppen auch, eigene Anliegen.

Unter dem Druck der Industrielobby werden derzeit die Bauvorschriften gelockert, die bisher Rücksicht auf mögliche historische Fundstätten vorschrieben. Gleichzeitig werden die Archäologen Opfer der Sparmaßnahmen im öffentlichen Dienst – 800 von ihnen wurden gerade entlassen. Ein Beispiel von vielen für das, was die Sparpolitik bedeutet, die die Regierung unter Jean-Pierre Raffarin zum offiziellen Programm erhoben hat.

»Oh Raffarin, wenn Du wüsstest, wo wir uns Deine Reform hinstecken. In den, in den, ah, kein Zögern und kein Zaudern – weg mit dem Reformentwurf!« Sie singen das auf eine Melodie von Altrocker Johnny Halliday. Mit solchen und anderen Slogans drücken Busfahrer, Krankenhausangestellte, Lehrer und Postbedienstete ihre Ablehnung einer Rentenpolitik aus, die vorsieht, dass sie künftig länger Beiträge einzahlen und am Ende weniger aus der Kasse erhalten sollen. Zudem will die Regierung das Rentenalter um bis zu viereinhalb Jahre heraufsetzen. Ähnliche Reformen stehen derzeit in der gesamten EU auf der Tagesordnung – wurde doch im März vergangenen Jahres auf dem Gipfel in Barcelona zum Ziel erklärt, in den Mitgliedsländern das Renteneintrittsalter um fünf Jahre anzuheben. Außer in Frankreich wurde in den vergangenen 14 Tagen in Italien und Österreich dagegen gestreikt.

So beteiligten sich an dem »größten Streik der zweiten Republik Österreich«, wie die Gewerkschaften ihn bezeichnen, 600 000 Menschen – eine ganze Menge bei 8,2 Millionen Einwohnern. Mit dem Ausstand, der auf den Dienstag der vergangenen Woche beschränkt war, wurde gegen die Pläne der rechts-konservativen Regierung protestiert, das Rentenalter schrittweise auf 65 Jahre anzuheben und die Frührente nach und nach abzuschaffen. Zur Freude aller ging es dabei – obwohl der Verkehr fast völlig lahm gelegt wurde – sehr gesittet zu. Es gab kein Chaos in den großen Städten, weil sich viele Beschäftigte einfach an dem Tag Urlaub genommen hatten. Andere strebten per Fahrrad oder mit Skates zur ihren Arbeitsstellen. Der Gewerkschaftsbund ÖGB hatte die Lage auch weitgehend im Griff, während die französischen Gewerkschaftsapparate nach wie vor ein Ausbrechen ihrer Basis befürchten.

Durch Paris wälzte sich Mitte vergangener Woche erneut ein Demozug mit rund 80 000 Teilnehmern. Gleichzeitig protestierten Menschen in 110 weiteren französischen Städten. Zu Beginn dieser Woche wurde erneut die Arbeit niedergelegt, denn seit Dienstag debattiert die französische Nationalversammlung den Gesetzentwurf zur Rentenreform, den der neogaullistische Arbeits- und Sozialminister François Fillon eingebracht hat. Bereits am 20. Juli sollen die drei parlamentarischen Lesungen in beiden Kammern abgeschlossen sein. Die Protestzüge und Blockadeaktionen haben daher in den letzten Tagen überall im Land erheblich zugenommen. Ob damit allerdings die Annahme des Entwurfs tatsächlich verhindert werden kann, erscheint äußerst zweifelhaft. Die konservative Regierung hat klargestellt, dass sie keinen Rückzieher machen und auch keine größeren Änderungen am Text akzeptieren werde. Denn ansonsten stehe ihre Glaubwürdigkeit, Reformen umsetzen zu können, auf dem Spiel.

Und ihre Agenda für Reformen ist umfangreich. Im August sollen die Strom- und Gasversorgungsunternehmen EDF-GDF privatisiert und im September die öffentlichen Krankenkassen teilprivatisiert werden. Die sozialen Gegenaktionen sind bisher nicht auf der Höhe der Herausforderungen. Normalerweise stellt bei größeren sozialen Konflikten in Frankreich der Streik der Transportarbeiter eine Art Initialzündung dar. Wenn die öffentlichen Transportmittel nicht mehr zur Verfügung stehen und sich wie im Mai 330 Kilometer lange Staus rund um Paris bilden, dann sinkt die Hemmschwelle für andere Beschäftigte, der Arbeit fernzubleiben.

Doch derzeit bleibt die Ungleichzeitigkeit das bestimmende Element bei den Arbeitsniederlegungen. Zwar begann am Montag vergangener Woche der Ausstand in den Transportbetrieben, bei der Bahngesellschaft SNCF sowie den örtlichen Verkehrsbetrieben in 50 französischen Städten. Doch der Erfolg ist unterschiedlich, je nach Tageszeit und Metrolinie.

Einer der Gründe dafür ist, dass es der Regierung im Vorfeld gelungen ist, einen Teil der Transportgewerkschaften aus dem Streik herauszuhalten, vor allem bei der RATP, dem Metro- und Busbetreiber im Großraum Paris. Wenn die dort Angestellten den Betrieb lahm legten, beeinträchtigten sie den Gang mehrerer Millionen Menschen zur Arbeit und das hatte erhebliche Auswirkungen auf die gesamte Ökonomie. Die Beschäftigten der RATP verfügen aber über eine eigene Rentenkasse, wie auch die Eisenbahner. Die konservative Regierung hat in den vergangenen 14 Tagen alles darangesetzt, diesen Sektor zu isolieren, indem sie ihn – vorläufig – aus der Reform der Rentensysteme ausklammerte. Bei der RATP ging die Rechnung halbwegs auf.

Aufgrund des niedrigen Altersdurchschnitts bei den Angestellten schreibt ihre Rentenkasse derzeit dicke schwarze Zahlen. Nur die CGT und die linke Sud-Transports riefen zum Ausstand auf, fünf eher gemäßigte Gewerkschaften dagegen zur Wiederaufnahme der Arbeit. Bei der Eisenbahn dagegen, wo das Betriebsklima stärker politisiert ist, war die Regierung mit ihrem Konzept nicht so erfolgreich.

Ein anderer wichtiger Grund für die mangelnde Durchschlagskraft des Transportarbeiterstreiks liegt in der Taktiererei der Gewerkschaftsapparate in der letzten Zeit. Als nach dem in diesem Ausmaß unerwarteten Erfolg der Großdemonstration gegen die Verlängerung der Lebensarbeitszeit Mitte Mai (Jungle World, 22/03) die Transportbeschäftigten die Arbeit an vielen Orten spontan niederlegten, waren sie vor allem durch die CGT gestoppt worden. Die jetzige Aufforderung zum Streik – der nun auch in den »Aktionskalender« der CGT passt – stieß daher nicht überall auf Gegenliebe. Manche Beschäftigte fühlen sich verschaukelt oder instrumentalisiert. Gleichzeitig scheint sich die Protestbewegung, die kaum mehr auf erfolgreiche Lähmung des ökonomischen Alltagsbetriebs und der Regierungsarbeit hoffen kann, zu radikalisieren. Zahlreiche so genannte Nadelstichaktionen fanden Ende voriger Woche statt.

In Amiens etwa besetzten streikende Lehrer und Eisenbahner gemeinsam die Bahngleise. In der Pariser Vorstadt Bagnolet besetzten Pädagogen ein Busdepot und diskutierten stundenlang mit den dort Arbeitenden. An anderen Orten ging man sogar weiter. In zehn Städten wurden am Donnerstag die regionalen Sitze des Arbeitgeberverbands Medef zum Ziel von Protesten. In Pau drangen 50 CGT-Basismitglieder und Anarchosyndikalisten in das Gebäude ein und zertrümmerten Mobiliar. Das Medef-Büro in La Rochelle brannte weitgehend nieder, nachdem vor ihm entzündete Autoreifen ein außer Kontrolle geratendes Feuer entfachten. In den nächsten Tagen wird sich zeigen, ob es sich um einen spektakulären Showdown handelt, oder ob die Regierung noch zu sichtbaren Zugeständnissen gezwungen werden kann.