If You’re Lost, Go Faster

Die patriotische Opposition in den USA kritisiert die Begründungen der Regierung für den Irakkrieg. Für Bush zählt aber letztlich der Erfolg seiner Politik. von tim blömeke

Paul Wolfowitz hat es in einem Interview mit Vanity Fair ausgesprochen und damit eigentlich alles gesagt: Massenvernichtungswaffen (WMD) sind nie der wichtigste Grund für die britisch-amerikanische Eroberung des Irak gewesen, sagte der stellvertretende Verteidigungsminister. Die Reaktion der Bush-kritischen Öffentlichkeit in den USA und im Ausland war vorhersehbar.

Zwischen dem liberalen »Wie konnte man uns nur so täuschen!« und dem radikalen »Hab ich’s doch gewusst!« bewegen sich Hunderte von Artikeln und Kommentaren; im US-Kongress wollen zwei Ausschüsse die Geheimdienstinformationen untersuchen, auf die sich die WMD-Argumentation für den Krieg stützte. Mitglieder der CIA-Führungsebene erheben Vorwürfe gegen das Pentagon: Ihre in ehrlicher Kleinarbeit erworbenen Datenschnipsel und Faktoiden seien von den Ideologen des Verteidigungsministeriums einseitig ausgewertet worden. Das Pentagon habe zudem Informationen aus dem Umfeld des von der Regierung als potenziellen irakischen Staatschef gehandelten Ahmed Chalabi wesentlich überbewertet.

Einzelne CIA-Offizielle sprechen gar von »politischem Druck«, ausgeübt von Vizepräsident Richard Cheney. Er habe die CIA gezwungen, ihre Berichte im Sinne der Regierungsargumentation zu gestalten und sich jeglicher Kritik an der Regierung zu enthalten. CIA-Chef George Tenet habe dem Druck nachgegeben und die übliche strikte Wahrhaftigkeit und analytische Professionalität über Bord gehen lassen.

Die Fragen der Untersuchungskommission des Repräsentantenhauses an Tenet sind bezeichnend für die mangelnde Schärfe der Debatte. In einem Brief vom 22. Mai fragen die Parlamentarier, ob »die Methoden und Quellen, die einen Beitrag zur Geheimdienstanalyse bezüglich des Vorhandenseins und der Mengen an WMD im Irak leisteten, in Qualität und Umfang hinreichend waren, um eine hinreichende Genauigkeit zu gewährleisten.«

»Ich selbst glaube nicht, dass wir irgendetwas finden werden. Ich glaube, wir werden Leute finden, die uns sagen werden, wo wir etwas finden können. (…) Die Inspektoren haben nichts gefunden, und ich bezeifle sehr, dass wir etwas finden werden.« Dieses Zitat stammt aus einer Pressekonferenz mit Verteidigungsminister Donald Rumsfeld vom 17. April. Nach über 80 Tagen mehr oder weniger intensiver Suche und Wolfowitz’ Einlassung gegenüber Vanity Fair kann man sich Fragen an den CIA-Direktor eigentlich sparen, es sei denn, man will Tenets Rücktritt wegen seiner recht untergeordneten Rolle in Bushs PR-Kampagne für den Krieg.

Wer die Argumentation der USA und Großbritanniens im UN-Sicherheitsrat verfolgte, konnte an einer Hand abzählen, dass ein Krieg mit oder ohne für stichhaltig erachtete Begründung und mit oder ohne internationale Unterstützung stattfinden würde. Die Frage war nur, auf welcher Seite man nach dem Krieg stehen würde, und Tenet gehörte schlichtweg zu denen, die sich frühzeitig für die Gewinner entschieden.

Wie übrigens auch die Mehrheit der Demokratischen Partei im Kongress, die sich nicht gerade durch öffentlich zur Schau gestelltes Misstrauen gegenüber der dürftigen Argumentation der Bushies ausgezeichnet hat und jetzt Anstalten macht, geheuchelte Leichtgläubigkeit durch geheuchelte Empörung zu ersetzen. Die politischen Fakten sind jedoch mittlerweile geschaffen; im besten Falle wirft die Bearbeitung des Themenfeldes der Kriegsbegründung etwas für den Präsidentschaftswahlkampf 2004 ab.

Die Regierung hat unterdessen ein neues außenpolitisches Betätigungsfeld gefunden: Den Friedensprozess im Nahen Osten. Mit einer geschickten Kombination aus Druck und Verhandlungsgeschick gelang es den US-Diplomaten, die teilweise Entmachtung Arafats zugunsten liberalerer Kräfte durchzusetzen und den israelischen Premier Ariel Sharon gemeinsam mit dem neuen Premierminister der palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmoud Abbas, an den Verhandlungstisch im jordanischen Aqaba zu zwingen. Die vorläufigen Ergebnisse sind auf den ersten Blick vorzeigbar, Sharon und Abbas folgten den Vorgaben Bushs.

Dessen Engagement im Nahen Osten wirkt nicht nur auf die beteiligten Parteien überraschend und unkonventionell. Zum einen war Bush im Wahlkampf 2000 mit der Maßgabe angetreten, die außenpolitische Verwicklung der USA auf ein überschaubareres Maß zu reduzieren, zum anderen fand die sehr medienwirksam inszenierte Konferenz in Aqaba unter Ausschluss dreier Mitglieder des so genannten Nahost-Quartetts statt, zu dem außer den USA die Uno, die EU und Russland gehören. Sie waren nicht eingeladen.

Seiner Rhetorik nach zu urteilen will Bush im Nahen Osten die Früchte des Irakfeldzuges ernten. Der Sturz Saddam Husseins habe den Weg geebnet für die Entstehung zweier Musterdemokratien in der Region: Irak und Palästina. Sollte Bush in den kommenden Monaten weitere sichtbare Fortschritte vorweisen können, oder zumindest deren Anschein, kann er jegliche Kritik an seinem Irakfeldzug getrost ignorieren, komme sie von den Demokraten oder von Kontrahenten wie Deutschland und Frankreich.

Allerdings hat Bush nun seine dritte außenpolitische Großbaustelle eröffnet. Nimmt man Afghanistan und Irak als Präzedenzfälle, ist dabei wenig Anlass zur Hoffnung gegeben. Die Nachkriegssituation in beiden Staaten ist desolat. Der versprochene Wiederaufbau Afghanistans lässt auf sich warten, und auch der Irak macht zur Zeit nicht den Anschein, als werde er als erster Stein den versprochenen demokratischen Dominoeffekt auslösen: Massenelend, antiamerikanische Demonstrationen, Bandenkämpfe, schiitische Bestrebungen zum Aufbau eines islamisch-fundamentalistisch orientierten Staatsapparates, das Fehlen jeder Spur von Saddam Hussein und der Diebstahl von radioaktivem Material aus irakischen Beständen, so dass die USA sich sogar gezwungen sahen, Inspekteure der internationalen Atomenergiebehörde IAEA ins Land zu lassen, um das genaue Ausmaß festzustellen. Vom erklärten Kriegsziel der Terrorbekämpfung plus Errichtung einer irakischen Demokratie westlichen Stils sind die USA weit entfernt.

Sogar Apologeten der WMD-Kriegspropaganda wie Thomas Friedman von der New York Times sehen den demokratischen Wiederaufbau als entscheidend für die Irakpolitik der Bush-Administration an. Friedman wischt die ganze Debatte um die Massenvernichtungswaffen als schon vor dem Krieg nebensächlich vom Tisch. Es habe weit bessere Gründe für einen Irakkrieg gegeben, die Regierung habe nur nicht gewagt, sie auszusprechen. Für die Zukunft Amerikas sei es jetzt wichtig, »den Frieden zu gewinnen«, Lügen hin oder her.

Dennoch birgt die Angelegenheit wegen ihres moralischen Gehalts einigen politischen Sprengstoff in sich. Als Präsident darf man die Öffentlichkeit zu einem gewissen Grad belügen, bei der kämpfenden Truppe aber hört der Spaß auf. Falls es den Demokraten gelingen sollte, Bush 2004 über diese Moralfrage stolpern zu lassen, hätte das sicherlich eine gewisse Ironie. Man möchte es ihnen aber fast nicht wünschen. Sie übernähmen einen bankrotten Staatshaushalt, zwei neue Protektorate mit unabsehbaren Kriegsfolgekosten sowie einen praktisch erzwungenen Friedensprozess, der jederzeit wieder scheitern kann. Wahrscheinlicher ist ohnehin, dass Bush mit seiner Strategie, sich bei entstehender Orientierungslosigkeit ein neues Betätigungsfeld zu suchen, auch weiterhin Erfolg hat und die moralischen Implikationen des Irakkriegs dann bereits Schnee von gestern sind.