Lasst sie doch einfach verenden

Vorschläge zur Gesundheitsreform von rainer trampert

Zwei angesehene Professoren, der Konstanzer Friedrich Breyer, der im Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums sitzt, und der katholische Theologe Joachim Wiemeyer, der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Sozialethiker, haben in der vergangenen Woche in der ARD-Sendung »Report« ausgesprochen, was immanente Konsequenz der Gesundheitsreform ist: Alte Menschen sollen durch den Entzug medizinischer Leistungen früher sterben. Nicht qualvoll, denn schmerzlindernde Mittel werden noch verabreicht.

Isoliert seien sie nicht, sagt Wiemeyer über sich und seinen Kollegen, überall würden »theologische und philosophische Ethiker, Gesundheitsökonomen und Wirtschaftsethiker« beraten: »Wer soll die knappen Leistungen bekommen?«

Die Antwort lautet: die Nützlichen.

Schon lange verströmt die Reformdebatte Leichengeruch. Rentner, Arbeitslose und Kranke kommen in den Talkshows im Fernsehen nicht als Menschen, sondern als Lohnnebenkosten vor, die man senken müsse. Ihre Verdinglichung zum lästigen Kostenfaktor behandelt sie wie Todgeweihte. Der Satz: »Es ist ja schön, dass wir heute so alt werden, aber …« meint: Finanzierbar sei das Alter nicht.

Wer eine Gesellschaft nicht denken kann, in der die Versorgung dieser Menschen keinem Verknappungsgesetz unterliegt, wird früher oder später darauf kommen, dass ihr früher Tod die Lohnnebenkosten am nachhaltigsten senken und Deutschland wieder voranbringen würde. Fast ein Drittel der deutschen Wirtschaftsleistung hält jene Gruppen am Leben, die selber keinen Mehrwert produzieren, sondern nur Mehrwert verzehren zu Lasten des Profits, der Staatsfinanzen und der Entlohnung der Leistungsträger.

Der Kapitalismus müsse sich »seinen Opfern widmen, damit sie stillhalten«, schrieb der Marxist Paul Mattick, »aber das System wird diese Verluste nur tragen«, wenn die Produktivität genug Wert für die Kapitalakkumulation abwerfe. Würden die Profite »von den Kosten der Erhaltung der nicht-produktiven Bevölkerung aufgezehrt«, höre »das Kapital auf, als Kapital zu fungieren«.

So weit sind wir nicht, aber jede Krise des Profits führt unweigerlich zum Angriff auf das Soziale, und immer gilt: Staaten, die den »unproduktiven« Schichten einen höheren Wert abpressen, der in Kapital verwandelt werden kann für neue Techniken, die Eroberung Chinas, für Kriege, Rohstoffe, den Kauf von Konkurrenten und Staaten, haben einen Konkurrenzvorteil. In Franz Münteferings Worten: »Wir müssen einen Teil des Konsums umlenken in Investitionen für die Zukunft.«

Marktwirtschaft ist die Übertragung der darwinistischen Naturordnung auf die menschliche Gesellschaft. Sie selektiert permanent Starke und Schwache, wertes und unwertes Leben. Unproduktiv, nicht konkurrenzfähig, ausmerzen! Die Starken fressen die verwertbaren Reste des Kadavers: den Kundenstamm, das Personal, die Maschinen. Die Abfederung dieses Prinzips in der Gesellschaft liegt an der langen Geschichte der sozialen Kämpfe, die der Reinheit des Marktes Kompromisse abgerungen haben.

Gegenwärtig wird das einkassiert, was frühere Generationen mühsam erkämpft haben. Viele reagieren darauf wie gelähmt. Aber in welchen Zustand soll jemand geraten, der das System bejaht, obwohl er ahnt, dass sein Suizid dem System am besten helfen würde?