Nicht so leben, als ob

Wie links und wie global kann Pop eigentlich sein? von alfred hackensberger

Irgendwie ist der Mythos von Pop und Revolte einfach nicht totzukriegen. Obwohl der Patient schon lange hinüber ist, wird immer wieder an ihm herumgedoktert, ob da nicht doch noch ein Funken Leben sei. Allerspätestens seit der Erkenntnis, dass Rockmusik ohne das geringste Problem auch rechtsradikal und rassistisch sein kann, sollte man doch meinen, die Vorstellung, Pop habe notwendigerweise etwas mit Befreiung, Revolte, mit dem »anderen Leben« zu tun, hätte sich erledigt. Tatsächlich aber spukt dieser Gedanke weiter in den Köpfen herum.

Ein gutes Beispiel dafür ist der Band »Popvisionen. Links in die Zukunft« aus der Reihe Edition Suhrkamp. Er ist ein Resultat der Tagung »Quo Vadis, Pop«, die Ende 2000 in Essen stattfand. Ein Reader mit 13 Aufsätzen bekannter und weniger bekannter Autoren über Napster, Elektromusik, Kunst, Kommerz, Computer, Bayreuther Festspiele, Trash und Independent Labels, aufgeteilt in »www.pop.com«, »Global Music« und »Globalkolorit«. Ganz abgesehen, dass es von der »linken Zukunft« wenig zu lesen gibt, was nicht unbedingt ein Nachteil ist, da begriffliche Schubladen selten das Verständnis erleichtern, hätte man sich auch die »Visionen« im Titel sparen können. Das knapp 300 Seiten dicke Buch mit seinen meist über zwei Jahre alten Beiträgen ist eine Bestandsaufnahme der Popverhältnisse, selbst wenn in der Einleitung der »Allroundkünstler Prince« mit seinem Song »The Future« (1989) zitiert wird: »I’ve seen the future and it will be/ I’ve seen the future and it – works!«

Nur wenige Aufsätze bringen tatsächlich etwas Neues oder zeigen Zusammenhänge, die man nicht schon vorher kannte. Das größte Hindernis bei der Lektüre der meisten Beiträge ist, dass sie zum hundertsten Mal das Es-war-einmal der Popmusik – teilweise sehr wehmütig – als Referenzpunkt nehmen und dass sie das Wie-eine-Gesellschaft-sein-sollte mit Popmusik verwechseln. Dabei tappen sie, kaum einem Klischee entronnen, schon zum nächsten. Ein Beispiel dafür ist Thomas Groß mit seinem Essay »Desire to be Wired, Napster und seine Folgen«. Erst räumt er mit dem positiven Image von Napster – »zurechtgezimmert unter Zuhilfenahme der freiheitlichen Hacker-Ethik« mit »15 Millionen Startkapital« – auf, um dann aber als letzten Ratschluss das Internet als »Möglichkeitsraum« anzupreisen. Das klingt wie die übliche Technikanhimmelungsvariante, nach dem Motto »Freiheit und Abenteuer« mit dem Computer auf dem Datenhighway, ohne Prärie und ganz ohne Pferd.

Zwei gelungene Ausnahmen und die Highlights in den »Popvisionen« sind Diedrich Diederichsen mit »Es streamt so sexy« und Volker Kalisch, »Plug in and Play. Zur Ambiguität medial bedingter Freiheit«. Diederichsen schreibt in seinem Text über elektronische Musik das, was Thomas Groß ganz vergessen hat und eigentlich nichts Besonderes ist: »Seit der so genannten digitalen Revolution ist Technologie per se sexy geworden«. Und weiter heißt es, der Pop sei »zirkulärer geworden«, Pop sei das, was »nur noch sich selbst verspricht« und »weniger auf gesellschaftliche als auf technische Versprechen gerichtet wäre, aber darin ja sich wieder nur ähnlich entwickelt hätte wie der Rest unserer Zivilisation«. Da ist also nichts mehr vom großen, ganz anderen, besseren Leben oder was weiß ich noch.

Am Beispiel computergenerierter Musik bremst Volker Kalisch in seinem Beitrag die euphorische Ansicht aus, der Rechner erzeuge eine ganz eigene Kreativität, die zur Entstehung neuer Sounds und Klangwelten beitrage. Statt Verwirklichung werde »programmangepasstes Verhalten eingeübt, und Anpassung erscheint als normal, als effektiv und funktionabel«. »Nicht wir sind es, die sich dem Computer unserer eigentümlichen, anthropologisch gegründeten Weltwahrnehmungs- und -interpretationsweise anpassen – was auch gar nicht ginge! –, sondern der omnipräsente, totale Herrschaft entfaltende Computer ist es, dem wir in gefälliger Form selbst unsere Kreativität im Zweifelsfalle opfern.«

Auffallend bei der Lektüre des gesamten Buches ist die unreflektierte Selbstbespiegelung, das Sprechen über die eigene Welt als Zentrum relevanter Ereignisse, über das der große Rest vergessen wird. Bezeichnenderweise kommen die meisten Texte als so genannte wissenschaftliche daher, dröge und altbacken, viele Autoren sind Unileute, die mit ihrem akademischen Vokabular und Argumentationsstil »Objektivität« suggerieren, als ob man darüber nicht schon längst hinweg wäre. Gerade in Sachen Pop.

Die Freiheit des Internets oder Pop als weltverbindendes Element ist eine Imagination des Zentrums. 60 oder 70 Prozent der Menschheit haben keinen Zugang zum Internet, geraten nicht in Ekstase wegen der Rolling Stones, Nirvana oder Tortoise. Im Beitrag von Gabriele Klein und Malte Friedrich, »Globalisierung und Performanz des Pop«, wird leichtfertig mit dem Verweis auf »Techno-Partys in Mexiko, Rap in Südafrika, Rock’n’Roll in China, Punk in Japan, Ethno-Pop in Deutschland« die Weltläufigkeit des Pops behauptet. »Popkulturen sind Migrantenkulturen und sie etablieren sich als hybride Kulturen. Sie konstituieren sich im ›Dazwischen‹ von Globalem und Lokalem: Popkulturelle Stile werden an lokalen Orten entwickelt, als kulturelle Ware global verbreitet, an verschiedenen Orten der Welt angeeignet und gehen als lokale Stile wieder in die globale Produktion ein.« Das hört sich schön und plausibel an, unterschlägt aber die Hierarchien, Ausschlüsse und die Unterschiede zwischen Peripherie und Zentrum. Der Kommunikationslauf geht von einem urbanen Zentrum zum anderen, von Mexiko City nach Kapstadt und dann nach Casablanca oder London oder vielleicht auch New York. Pop verbindet Generationen, die unter ähnlichen Bedingungen leben und auf den gleichen medialen Verbindungswegen wandeln, produziert aber zugleich die Ausschlüsse der von diesen Technologien Ausgeschlossenen.

The times they are a changin’. Aber ist es der Pop, der die Dinge voranbringt? Olaf Karnik zeigt in seinem Aufsatz »Polit-Pop und Sound-Politik in der Popgesellschaft«, wie schwer es geworden ist, als Popmusiker radikal gesellschaftskritisch zu sein, ohne von der Megamaschine Markt vereinnahmt zu werden. »Politische Äußerungen im Pop laufen immer Gefahr, lediglich als frischer ›Content‹ oder neuer Semantisierungsschub für einen schlaffen und selbstbezüglichen Ästhetizismus innerhalb der Popkultur gefeiert zu werden.«

Wut und Ärger darüber spiegelt sich in den Texten von den Goldenen Zitronen wider, bei Blumfeld oder auch bei Jan Delay: »Ich möchte nicht, dass ihr meine Lieder singt.« Ein Grund zur Resignation ist das nicht, wie es die Arbeit der genannten Bands zeigt, die wie so viele andere seit Jahren weitermachen. Aber das hat weniger mit dem Vertrauen auf Pop zu tun, eher mit der Liebe zur Musik und mehr noch mit einer persönlichen Entscheidung. Bei Blumfeld lautet das so: »Ich will nicht in eurer Logik leben, nicht so, als ob ich einverstanden wär.«

Popvisionen. Links in die Zukunft. Edition Suhrkamp, Frankfurt 2003, 276 S., 11 Euro