Von der Versportlichung der Freizeitvergnügen

Im jetzt vorliegenden siebten Band seiner Gesammelten Schriften beschäftigt sich Norbert Elias mit der Bedeutung des Sports im Zivilisationsprozess. von rené martens

Erst in den Jahren vor seinem Tod wurde Norbert Elias (1897–1990) langsam als Klassiker der Soziologie gewürdigt. Insofern passt es, dass es rund 17 Jahre gedauert hat, bis sein, verkürzt gesagt, wichtigstes sportsoziologisches Werk jetzt komplett in deutscher Sprache vorliegt.

Das Publikationsdatum von »Sport und Spannung im Prozess der Zivilisation«, gemeinsam verfasst mit seinem Schüler Eric Dunning, einem englischen Sportsoziologen, bringt es natürlich mit sich, dass einige Voraussetzungen, von denen die Autoren ausgehen, nicht mehr gelten – etwa Dunnings Einschätzung, Hooligans stammten überwiegend aus den unteren Schichten. Das ändert aber nichts daran, dass dieser siebte Band von Elias’ Gesammelten Schriften eine insgesamt höchst anregende Lektüre ist.

Elias hat stets betont, wie bedeutsam historische Analysen für die soziologische Forschung sind, und eben diese Maxime wenden Dunning und er hier auf den Sport an: »Um die Beziehungen zwischen der Struktur und der sozialen Funktion des Sports sowie den anderen Aspekten der Gesellschaft ans Licht zu bringen, muss man eine Langzeitperspektive wählen (…) und aufhören, den Sport einfach als ein Faktum zu behandeln, dessen Existenz nicht weiter erklärt zu werden braucht, man muss sich fragen, wie und warum er entstand.«

Die zentralen Fragen, die von beiden Autoren immer wieder aufgeworfen werden, lauten: In welchem Zusammenhang stehen der Sport respektive die vorsportlichen Spielformen zur Verfasstheit der jeweiligen Gesellschaften? Welche Wechselwirkungen gibt es zwischen der Entwicklung des Sports und dem, was Elias »Zivilisationsprozess« nennt?

Hilfreich ist es erst einmal, dass Elias/Dunning zwischen Sport und jenen vorsportlichen Freizeitbeschäftigungen unterscheiden, die im Mittelalter verbreitet waren. Das ist unter anderem insofern wichtig, als damals etwa »Bedingungen für Sieg und Niederlage offensichtlich nicht genau gefasst« waren. Außerdem war der so genannte Fußball, der aus dem England des 14. Jahrhunderts überliefert ist, eine illegale Aktivität, weil er so brutal war, dass er hin und wieder Todesopfer forderte, weshalb von einer Ähnlichkeit mit dem uns bekannten Spiel schwerlich die Rede sein kann. Entsprechendes gilt für die Beziehung zwischen der Vorform des Rugby, bei dem im Mittelalter laut Dunning gelegentlich mehr als 1 000 Menschen aufeinander trafen, und das heutige Spiel mit seinem hochkomplexen Regelsystem.

Schiedsrichter gab es damals nicht, und die Regeln variierten von Dorf zu Dorf, von Generation zu Generation. Fixiert werden konnten sie schon deshalb nicht, weil die Bevölkerung überwiegend aus Analphabeten bestand. Bezug nehmend auf die Entwicklung von Kricket, schreibt Elias: »Als es üblich wurde, Wettbewerbsspiele oberhalb der lokalen Ebene auszurichten, weil Kricketmannschaften von einem Ort zum nächsten reisten, wurde es notwendig, die Einheitlichkeit des Spiels zu gewährleisten. (…) Die Einigung auf Regeln (war) eine wichtige Voraussetzung bei der Umwandlung eines traditionellen Zeitvertreibs in Sport.«

Die mittelalterlichen Spiele hatten laut Elias noch dazu gedient, Spannungen zwischen Dörfern oder verschiedenen sozialen Gruppen zu bewältigen, »in der Form des ›Sports‹ (erlangten) Spielwettkämpfe, die mit körperlicher Anstrengung verbunden waren«, dann aber ein bis dahin unerreichtes »Niveau an Ordnung und Selbstdisziplin«. Das führen die Autoren zum einen zurück auf die Institutionalisierung des Sports – die Gründung der Rugby Union 1871 beispielsweise sei »zum Teil Folge eines öffentlichen Streits über die (…) übermäßige Gewalt des Spiels« gewesen, schreibt Dunning –, zum anderen auf die politischen Prozesse jener Zeit. »Die ›Parlamentarisierung‹ der grundbesitzenden Klassen in England hatte ihr Gegenstück in der ›Versportlichung‹ ihrer Freizeitbeschäftigungen«, sagt Elias. Zu »einer parlamentarischen Staatsordnung« gehörten »zahlreiche gewaltlose Schlachten, die nach fest etablierten Regeln ablaufen«, so dass sie in dieser Hinsicht »mit sportlichen Spielen« verwandt sei.

Das lässt sich zwar nicht ganz von der Hand weisen, aber problematisch ist natürlich, dass diesen Gedanken eine, vorsichtig formuliert, idealistische Vorstellung vom Parlamentarismus zugrunde liegt. Immerhin betont Elias, dass von einem »Kausalzusammenhang« keine Rede sein könne, also die Geburt des Parlamentarismus nicht die Ursache für die Entstehung des Sports war, wie wir ihn kennen. Ausgehend von Elias/ Dunning lässt sich sagen, dass der Sport – nach seiner Zivilisierung im 19. Jahrhundert – seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts nun wieder eine regressive Phase erlebt, zumindest insofern, als angesichts des erhöhten Konkurrenz- und Erfolgsdrucks »die Spieler zunehmend Regelverletzungen als bewusste Taktik einsetzen«.

Wie bereits angedeutet, sind gerade die Texte, die am stärksten in die Gegenwart hineinreichen, weniger erhellend. Dennoch finden sich auch in solchen Texten lehrreiche Passagen, etwa die Darlegung, dass, entgegen vielen Annahmen, der Hooliganismus ein sehr altes Phänomen ist. Während »die Quote, mit der Ausschreitungen von Fans gemeldet wurden«, von 1880 bis zum Ersten Weltkrieg »relativ hoch« gewesen sei, sank sie in den Zwischenkriegsjahren, pendelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg auf einem niedrigen Niveau ein, ehe sie Ende der fünfziger Jahre langsam und ab Mitte der sechziger Jahre deutlich anstieg – was die Autoren (Dunning, Patrick Murphy und John Williams) ganz im Sinne Elias’ mit dem Hinweis unterfüttern, dass der »Zivilisationsprozess« der britischen Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg ein niedriges Niveau erreicht hatte.

Für seinen Beitrag verwertete das Wissenschaftlertrio Archivmaterial des englischen Fußballverbandes sowie Zeitungsartikel, darunter einen recht aufschlussreichen aus dem Liverpool Echo. Dort wurde 1899 von einer »spektakulären Szene« berichtet, die sich im Bahnhof von Middlewich ereignete, als Fangruppen aus Nantwich und Crewe einander gegenüberstanden. Zunächst sprangen zwei Kontrahenten »auf die Gleise und lieferten sich einen wilden Kampf«, dann »lief eine größere Anzahl von Männern aus Nantwich über die Gleise«, um den anderen Bahnsteig zu stürmen. »Unbeteiligte Reisende liefen nach links und rechts davon. Dann schritt ein Sonderkommando ein, und die Polizisten führten die Männer ab, von denen viele Narben davontrugen, die sie für einige Zeit zeichnen werden.«

Das klingt, abgesehen vom Tonfall, tatsächlich so, als sei es in den siebziger oder achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts passiert. Es wäre erfreulich, wenn – wie von Elias/Dunning mal implizit, mal explizit gefordert – diese Wurzeln des Hooliganismus in zukünftigen Studien zum Thema hinreichend berücksichtigt würden.

Norbert Elias/Eric Dunning: Sport und Spannung im Prozess der Zivilisation (Gesammelte Schriften, Band 7). Suhrkamp, Frankfurt/Main 2003, 529 S., 35,90 Euro