Der fünfte Gang

Europäische Sicherheitsdoktrin von anton landgraf

»Überholen ohne einzuholen«, lautete einmal die Devise der realsozialistischen Staaten, als es noch darum ging, das Verhältnis zu ihrem größten Konkurrenten zu definieren. Der Versuch schlug bekanntlich fehl. Nun bemühen sich die Europäer auf ähnliche Weise, die Beziehungen zu ihrem transatlantischen »Partner« festzulegen, zumindest wenn es um Fragen nach Krieg und Frieden geht. Auf dem Gipfeltreffen in Thessaloniki will der griechische Ratspräsident Kostas Simitis zum ersten Mal eine eigenständige »europäische Sicherheitsdoktrin« präsentieren.

Mit ihr soll festgelegt werden, unter welchen Umständen die Union künftig ihre Sicherheit bedroht sieht und wie sie reagieren möchte. Im Mittelpunkt steht dabei der »Kampf gegen die Ausbreitung von Massenvernichtungswaffen«. Staaten, die atomare, biologische oder chemische Waffen verbreiten, haben nun mit einem »wesentlich energischeren Handeln« zu rechnen. Die Skala der in der Doktrin vorgeschlagenen Maßnahmen reicht dabei von der Androhung von Sanktionen bis zu präventiven Militärschlägen. Vor allem der Iran, Pakistan und Nordkorea könnten dann »rasch ins Visier der neuen EU-Strategie geraten«, wie die Süddeutsche Zeitung kommentierte.

Innovativ zeigen sich die Europäer besonders bei dem Versuch, ihre neue Doktrin zu legitimieren. Vor allem die Bundesregierung in Berlin legt Wert darauf, künftige Präventivkriege durch eine »Weiterentwicklung des Völkerrechts« abzusegnen. Die EU-Strategie sieht vor, das Verbot der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen verbindlich in das Völkerrecht aufzunehmen. Auf diese Weise wäre es möglich, gegen Staaten vorzugehen, die entsprechende Verträge nicht abschließen wollen, unter anderem auch gegen die USA, die bislang nicht alle relevanten Abkommen unterzeichnet haben.

Gleichzeitig könnten die USA, die den Irak gegen den Willen der Uno-Mehrheit angegriffen haben, wieder stärker eingebunden werden. Vor allem aber würden sich die Europäer ein größeres Mitspracherecht bei künftigen Angriffskriegen sichern.

Die ganze Doktrin ergibt aber nur einen Sinn, wenn die Europäer gleichzeitig in der Lage sind, sie auch anzuwenden. Daher kommt in Thessaloniki einem weiteren Thema entscheidende Bedeutung zu. Dort soll auch über den EU-Verfassungsentwurf gesprochen werden, und insbesondere über die Frage nach den Befugnissen eines künftigen gemeinsamen Außenministeriums.

Während die Briten unbedingt am Vetorecht festhalten wollen, bemüht sich Deutschland nach allen Kräften, das Prinzip der Einstimmigkeit in der künftigen Verfassung auszuhebeln. »Ich will nicht, dass ein Ländchen wie Malta oder Lettland künftig den Betrieb aufhalten kann«, zitiert der Spiegel den europäischen Außenminister in spe, Joseph Fischer. Oder Ländchen wie Polen oder Portugal.

Nur wenn Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip gefällt werden, ist es möglich, die Anwendung der neuen Doktrin auch zu garantieren. Eine einheitliche Außenpolitik, gestützt auf einen weltweit interventionsfähigen europäischen Militärapparat, ist mittlerweile für die EU genauso wichtig wie die gemeinsame Währung. Denn nur auf diese Weise ist es möglich, den Konkurrenten jenseits des Atlantik noch einzuholen.