Keine Ode an die Freude

Der EU-Konvent hat den Entwurf für eine gemeinsame europäische Verfassung gebilligt. Nun geht das Hauen und Stechen in die nächste Runde. von lucien maigret, brüssel

Mit donnerndem Applaus für die eigene Kompromissbereitschaft und unter den Klängen der Europahymne feierte der EU-Konvent am vergangenen Freitag, dass er den Entwurf für die erste EU-Verfassung angenommen hat. Der Vorsitzende, Valéry Giscard d’Estaing, erklärte sichtbar erleichtert: »Das Ergebnis ist nicht perfekt, aber wir hätten es nicht zu erhoffen gewagt.« Bis zur letzten Minute war nämlich nicht klar gewesen, ob der Konvent dem Entwurf zustimmen würde. Zu viele nationale Befindlichkeiten stehen auf dem Spiel, schließlich gehören dem Konvent 105 Vertreter der europäischen Regierungen, der nationalen Parlamente und des EU-Parlaments sowie der Kommission an.

Dass die Hoffnung auf eine Einigung in den vergangenen Wochen immer mehr schwand, lag allerdings auch nicht zuletzt an Giscards Eitelkeit. Mit Winkelzügen und Taktieren versuchte er bis zuletzt, genau seine Version der EU-Verfassung von dem Brüsseler Konvent verabschieden zu lassen. Dass es Giscard nicht leicht fallen würde, der Mediator und Moderator zu sein, der versucht, die Vorstellungen aller Konventsmitglieder auf einen Nenner zu bringen, das war denjenigen, die ihn noch aus seiner Zeit als Präsident Frankreichs kannten, von vornherein klar. Dass er es aber mit seiner wackligen Bündnispolitik, mit seinen immer neuen und immer weiter vom Konsens der Versammlung sich entfernenden Vorschlägen vor allem zu institutionellen Ausgestaltung der EU-Spitze schaffen würde, zeitweise nicht nur den größten Teil des Konvents gegen sich zu haben, sondern auch eine unbestimmte Mehrheit des EU-Parlaments, die Kommission und die meisten Regierungen in den Mitgliedsländern, das erschien denn doch als eine etwas übertriebene Vorstellung.

Die Situation schien vergangene Woche so verfahren, dass sich Romano Prodi, der Präsident der EU-Kommission, und Kostas Simitis, eigentlich nur griechischer Ministerpräsident, aber bis Ende Juni noch Präsident des Europäischen Rats, am Rande der Konventssitzung am Donnerstag vorsorglich auf die Formel verständigten, dass die Arbeit des Gremiums eine »ernsthafte Vorbereitung« für die im Oktober beginnende Regierungskonferenz sei.

Der halb fertige Verfassungsentwurf, mit dem Giscard in Thessaloniki nun vor die Regierungschefs treten wird, bleibt weiter höchst umstritten. Es ist absehbar, dass er von den 25 EU-Regierungen gründlich zerpflückt und umgeschrieben werden wird. Im Herbst wird der Entwurf von den EU-Ländern erörtert, bis Jahresende soll die Verfassung verabschiedet sein.

Dem Dokument wird die Leichtigkeit und knappe Klarheit seiner Vorbilder fehlen. Während die US-Verfassung und die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte auf wenigen Seiten zum Ausdruck bringen, um was es geht, wird die künftige EU-Verfassung ein gewichtiges Konvolut sein, in dem allgemeine rechtliche Grundsätze scheinbar gleichberechtigt neben erbsenzählerischen Einzelvorschriften stehen, die in ihrer Rechtssprache kaum verständlich sind und eigentlich in einer Verwaltungsordnung besser aufgehoben wären.

Das ist natürlich den Verhandlungen im Konvent geschuldet, in denen für jede Position, die auf der einen Seite aufgegeben wurde, ein Ausgleich auf der anderen geschaffen werden musste. Künftige Historiker werden an der EU-Verfassung aber auch ablesen können, dass jener europäische Geist, der in Thessaloniki wieder einmal pflichtgemäß beschworen werden wird, schon längst tot ist, und dass an seine Stelle längst wieder der hartnäckige Streit um Einzelfragen – das politische Alltagsgeschäft also – getreten ist. So gibt es statt des einen großen Streits um das Verfassungsprojekt viele kleine, und die Fronten verlaufen kreuz und quer.

Gestritten wurde im Konvent zum Beispiel bis zuletzt und ohne Ergebnis darum, ob die Präambel zur Verfassung einen Bezug auf so genannte religiöse Werte und insbesondere auf bestimmte Religionsgemeinschaften haben soll. In seltener Einigkeit setzen sich katholische, evangelische und orthodoxe Lobby-Organisationen dafür ein, im christlich-konservativen Lager der Konventsmitglieder finden sie nicht wenige Verbündete. Sozusagen den Gegenpol bildete der Antrag der wenigen linken Konventsmitglieder um die PDS-Politikerin Sylvia-Yvonne Kaufmann, in der Präambel einen Verweis auf das antifaschistische Erbe der Gründer der Europäischen Bewegung festzuhalten. Ur-Europäer wie der Italiener Altiero Spinelli oder der deutsche Buchenwald-Überlebende Eugen Kogon waren zuerst Antifaschisten, dann Europäer, so die Argumentation.

Während Kaufmanns Antrag von Anfang an wenig Aussicht auf Erfolg hatte, war und ist der Religionsbezug bis zuletzt in der Diskussion. Als entschiedener Laizist war Giscard dagegen. Aber auf der vorletzten Konventssitzung stritt plötzlich der deutsche Außenminister Joschka Fischer für eine religiös eingefärbte Präambel. Welches Entgegenkommen an anderer Stelle er dafür einzuhandeln hofft, weiß wohl nur Fischer selbst.

Doch auch wenn es sich hierbei um grundsätzliche Fargen handelt, sind das nur die kleinen Kämpfchen am Spielfeldrand. In dem Entwurf, der nun vom Konvent gebilligt wurde, sind wichtige Streitfragen ausgeklammert worden.

Im Kern der Auseinandersetzung geht es vor allem um Strukturen und Personen. Wie sollen die Institutionen an der Spitze der EU künftig aussehen, wer hat hier welche Befugnisse? Gerade bei diesen Fragen ist aber keine Einigung in Sicht. Und wo sich ein Konsens findet, zerstört ihn Giscard mit dem ihm eigenen Verhandlungsgeschick sogleich wieder. Da hatte man sich vor zwei Wochen darauf geeinigt, dass es einen ständigen Präsidenten des Europäischen Rates zwar geben, dass er aus symbolischen Gründen aber nicht so heißen sollte, sondern »Vorsitzender des Europäischen Rates«. Es dauerte keine Woche, da legte Giscard einen neuen Verfassungsentwurf vor, in dem abermals vom »Präsidenten« die Rede war.

Ähnlich geschickt verhielt er sich in der Frage der Entscheidungsbefugnisse in der Außenpolitik. Der nun vorgelegte Entwurf sieht keine gemeinsame Außenpolitik vor, weiterhin können einzelne Staaten gemeinsame EU-Entscheidungen per Veto blockieren. Bereits eine Stunde nachdem der Beifall für den Entwurf verklungen war, erklärten Bundeskanzler Schröder und EU-Ratspräsident Simitis auf einer gemeinsamen Pressekonfenz, dass es Verbesserungen geben müsse. Sie forderten vor allem, in der Verfassung die Möglichkeit mehrheitlich gefasster außen- und sicherheitspolitischer Beschlüsse zu verankern.

Diese Position kommt den Interessen von Fischer entgegen, dem das Amt eines mächtigen EU-Außenministers ganz besonders am Herzen liegt. »Ich will nicht, dass ein Ländchen wie Malta oder Lettland künftig den Betrieb aufhalten kann«, formuliert er es freundlich. Wenn jedes EU-Mitglied durch ein Veto gemeinsame außenpolitische Entscheidungen blockieren kann, dann hat ein europäischer Außenminister nämlich keinen großen Handlungsspielraum.